Rede · 19.03.2014 Die Demokratie lernt aus ihren Fehlern

„Unsere Gesellschaft und die, die unsere freiheitliche Gesellschaft schützen, sind glücklicherweise auf dem rechten Auge nicht blind.“

Die Verfassungsschutzberichte zeigen, dass sich allmählich immer weniger Menschen mit rechtsradikalen Gedanken identifizierten. Nach Jahren des Wachstums verzeichneten die Verfassungsschutzbehörden seit einigen Jahren nicht nur in Schleswig-Holstein, sondern bundesweit einen Rückgang der Personen im organisierten Rechtsextremismus. Gleichzeitig tauchten aktionistische Rechtsextremisten von der Bildfläche ab und organisieren sich in Zellen, deren konspirative Strukturen Beobachtung und Einschätzung durch Polizei und Verfassungsschutz erheblich erschweren. Unter der Oberfläche der Nazi-Szene verdichtet sich also ein harter Kern von Personen, die nach Taten dürsten, um unserer demokratischen Gesellschaft Gewalt anzutun. Nach außen bürgerlich und nach innen zu allem bereit. Dass es so etwas gibt, haben wir auf die harte Tour lernen müssen.
Wir haben gelernt, das Undenkbare zu denken. Wir konnten uns einfach nicht vorstellen, dass es Menschen gibt, die ihre verachtenden Ideen einer Herrenrasse in einer Mordserie gegenüber den vermeintlich Anderen ausleben. Und das über mehr als ein Jahrzehnt lang. Dass es neben grölenden Neonazis eben auch kühl kalkulierende Zellen gibt, hatte kaum einer im Fokus. Wir haben uns an das Bild des rechtsextremistischen Einzeltäters gehalten. Und es gibt sie ja tatsächlich, diese selbst ernannten einsamen Wölfe. So wie seinerzeit Kay Diesner, der 1997 den Polizisten Stefan Grage ermordet hat.
Daneben existieren auch gut vernetzte Zellen. Der Bundestagsuntersuchungsausschuss hat kritisiert, dass die Verfassungsschutzbehörden in der Vergangenheit keine rechtsterroristische Gefahr erkannten. Gesellschaft und Ermittlungsbehörden haben rechtterroristische Strukturen im Untergrund mit einem entsprechenden Unterstützernetzwerk unterschätzt und seit dem ersten Mord in Nürnberg an Enver Şimşek falsch eingeschätzt. Wir hatten nicht einmal einen Namen für diesen Terror von rechts, so dass wir uns bis heute mit dem selbst gewählten Namen der Mörder begnügen; wenn auch mit Anführungszeichen.
Wir haben gelernt, dass die Strukturen und Kompetenzen staatlicher Behörden nicht optimal waren. Koordinierungsprobleme der Landespolizeibehörden in Deutschland haben die Aufklärung der Mordserie erschwert. So konnte das Trio einen Mord nach dem nächsten planen und durchführen.
Die Behörden haben seitdem Vieles verändert und Kommunikation und Datenabgleich verbessert. Unterschiedliche Dateisysteme wurden harmonisiert und der Dialog mit Migranten intensiviert. Der Schock sitzt tief; hat aber auch erst tiefgreifende Reformen ermöglicht. Vergessen wir aber nicht, dass sich gleichzeitig mit den Veränderungen innerhalb von Polizei und Verfassungsschutz auch die rechtsextremistischen Strukturen verändern. Die Rechtsextremisten haben zwar kurzfristig den Kopf eingezogen, ihren falschen Idealen aber längst nicht abgeschworen. Der Verfolgungsdruck hat die Protagonisten der Szene in die Konspiration getrieben; unterstützt durch die neuen Kommunikationsmöglichkeiten, die das Internet bietet. Die vielköpfige Schlange ist aber nicht tot. Die rechtsextremistische Szene formiert sich gerade wieder neu und nutzt die Vorbehalte gegen Unterkünfte von Asylbewerbern für ihre Zwecke. Ich warne hier ausdrücklich davor, diese neuen Agitationsformen nicht ernst zu nehmen. Die Unterkünfte dürfen nicht zum Kristallisationskern neuen Terrors werden, indem dort beispielsweise Anhänger rekrutiert werden.
Auch der aktuelle Verfassungsschutzbericht warnt vor einem „Erkenntnisdefizit in der Lage- und Gefährdungsbeurteilung“ (S. 17). Mit anderen Worten: wir sollten uns nicht in Sicherheit wiegen, dass wir nun aber wirklich alle Formen von Rechtsterrorismus auf dem Schirm haben. Unser Vorwissen führt zu einer Erkenntniserweiterung, aber oft auch zu selektiver Wahrnehmung. Wenn wir also nur nach Zellen der Art Ausschau halten, deren Taten zurzeit in München vor Gericht verhandelt werden, werden wir andere, neue Formen des Rechtsterrorismus womöglich übersehen. Die meisten Fehler basieren darauf, dass wir unsere Fähigkeiten überschätzen. Genau das ist den Ermittlungsbehörden in der Vergangenheit passiert, die nicht erkannten, dass die Morde nicht nur zusammenhängen, sondern von einer rechtsextremistischen Zelle begangen worden waren. Viel zu lange ging man von Einzeltaten aus.
Die selektive Wahrnehmung der Ermittlungsbehörden hatte schreckliche Konsequenzen. Darum begrüße ich ausdrücklich die Bemühungen des Innenministers und der Justizministerin, das Problem der selektiven Wahrnehmung in der Aus- und Fortbildung von Polizisten und Richtern einen entsprechenden Platz einzuräumen. Die Fortbildungs-Veranstaltungen schärfen das Bewusstsein und öffnen Richtern und Polizisten den Blick. Die Sensibilisierung auch und gerade im Umgang mit den Opfern ist ein weiterer, wichtiger Schritt, zerstörtes Vertrauen vieler Menschen wieder herzustellen. Darüber hinaus geht es um die Fehlerkultur. Den Umgang mit Fehlern bei den Ermittlungsbehörden zu schulen, ist genau der richtige Weg, Fehler in der Wahrnehmung rechtsextremistischer Gewalt zukünftig zu verringern. Vermeiden lassen sie sich wohl nie. Wir haben das gelernt und die entsprechenden Konsequenzen gezogen. Aber kein Rechtsextremer soll meinen, dass die Demokratie wehrlos ist. Die Demokratie lernt aus ihren Fehlern – die Vergangenheit wird aufgearbeitet und unsere Gesellschaft und die, die unsere freiheitliche Gesellschaft schützen, sind glücklicherweise auf dem rechten Auge nicht blind.

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