Rede · 26.03.2009 Gesetz zur Förderung der inklusiven Bildung und die Verwirklichung eines inklusiven Bildungssystems

Mit der UN-Konvention „Anerkennung des Rechts behinderter Menschen auf Bildung“ wurde gefordert, dass 80% der Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen integrativ an Regelschulen unterrichtet werden sollen. Deutschlandweit werden derzeit gerade mal 16% dieser Kinder an Regelschulen unterrichtet, so dass der Aufholbedarf zur Umsetzung der UN-Konvention nach der Unterzeichnung entsprechend hoch ist.

Schleswig-Holstein fällt aus der Reihe der Bundesländer allerdings ausnahmsweise mal mit einer Spitzenposition heraus. Hier werden bereits über 45% der Kinder mit dem Förderbedarf Lernen, Sprache sowie emotionale und soziale Entwicklung an Regelschulen unterrichtet. Für diese große Gruppe der Kinder muss die bisherige Reformstrategie aus Sicht des SSW unbedingt fortgesetzt werden. Mit anderen Worten: Langfristig müssen so viele dieser Schülerinnen und Schüler wie möglich integrativ an Regelschulen unterrichtet werden.
Ziel muss dabei die Weiterentwicklung der Förderzentren dem ausgezeichneten Prototypen entsprechend sein - nämlich der Schule für Sehbehinderte in Schleswig. Kennzeichnend für diese Schule ist, dass sie eine Schule ohne Schülerinnen und Schüler ist. Was sich erst einmal komisch anhört, ist die konsequente Verwirklichung der ursprünglichen Bestimmung von Förderzentren.
Förderzentren dürfen in unserer Gesellschaft nicht zur Abschiebung von problematischen Schülerinnen und Schülern missbraucht werden. Stattdessen müssen die Sonderpädagogen und Fachkräfte der Förderzentren an Regelschulen eingesetzt werden, um so die Integration im gemeinsamen Unterricht und Schulleben zu realisieren.

Heute werden aber aus unserer Sicht noch viel zu oft problematische Kinder in Förderzentren abgeschoben, obwohl sie mit der richtigen Betreuung weiter an Regelschulen unterrichtet werden könnten. Diese Kinder sind überdurchschnittlich häufig männlichen Geschlechts und haben einen Migrationshintergrund. Durch PISA wissen wir von der Selektivität des deutschen Bildungssystems, so dass bei dieser erneuten Ausgrenzung von Kindern aus zum Beispiel sozial randständigen Milieus bei mir sämtliche Alarmglocken schrillen.

Ein Großteil dieser an Förderzentren abgeschobenen Kinder ist nicht behindert, sondern hat
schlichtweg eine Lernbehinderung. Lernbehinderung wird definiert als - ich zitiere hier das Wissenschaftszentrum für Sozialforschung in Berlin - negative Abweichung von den Durchschnittsleistungen der Gleichaltrigen, womit insbesondere Kinder aus bildungsbenachteiligten Familien und Kinder mit kulturellen Unterschieden klassifiziert und aus Regelklassen ausgesondert werden können.

Nur 1% der Kinder, die mit dieser Diagnose an Förderzentren landen, schafft den Sprung zurück an die Regelschule. Förderzentren haben häufig den Ruf eines überhöhten „Kümmerfaktors“ - sprich die Schülerinnen und Schüler haben hier teilweise keine geeigneten Vorbilder mehr, werden nicht mehr angespornt, agieren nicht mehr selbständig und entwickeln keinen Ehrgeiz im schulischen Vorwärtskommen. Außerdem haben Untersuchungen des Integrationsspezialisten Professor Doktor Hans Wocken von der Universität Hamburg ergeben, dass die Abschiebung an Förderzentren für diese Schülerinnen und Schüler sehr negative Konsequenzen hat. Nicht nur, dass sie äußerst selten den Sprung zurück an die Regelschule schaffen, zudem empfinden sie die Abschiebung als beschämend, als Bloßstellung und als Missachtung ihrer Würde. Förderzentren sind also nicht nur ein Schonraum vor Konkurrenz- und Leistungsdruck, vor Versagensangst und Misserfolgen, sondern vor allem auch eine Sackgasse für die Schülerinnen und Schüler.

Zielsetzung der Zentren muss aber sein, die Kinder schnellst möglicht wieder an die Regelschule zu bringen. Wenn dies nicht gelingt, tritt auch der SSW dafür ein, dass das System geändert wird. Der Gesetzentwurf und der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen gehen hier bereits in die richtige Richtung.

Es kann aber nicht darum gehen, alle Schülerinnen und Schüler an Regelschulen zu unterrichten. Es wird immer Kinder geben, für die es eine nicht-integrative sonderpädagogische Förderung geben muss. Damit einher geht wohl oder übel auch, dass bei Kindern mit Behinderung zwischen integrierbaren und nicht-integrierbaren Kindern unterschieden werden muss, so dass einige die angemessene Unterstützungsleistung an Förderzentren in Anspruch nehmen können und andere mit Hilfe sonderpädagogischer Betreuung in Regelklassen unterrichtet werden. Für diese Diagnose braucht es sehr viel Expertenwissen und vor allem auch eine Durchlässigkeit des Schulsystems.

Der SSW setzt sich dafür ein, dass an den Regelschulen ausreichend schulbegleitende Maßnahmen für Kinder mit Lern- oder Sprachbehinderung sowie emotionaler und sozialer Entwicklungsstörung vorhanden sind. Sonderpädagogische Fachkräfte müssen die Lehrerinnen und Lehrer in ihrem Unterricht unterstützen, so dass ein integrativer Unterricht realisiert wird und Kinder nicht mehr an Förderzentren abgeschoben werden. Dies ist eine Herausforderung sowohl für die Bildungspolitik als auch für die Schulen, die aus unserer Sicht nicht an fehlenden personellen, organisatorischen oder sächlichen Mängeln scheitern darf.

Mit der Unterzeichnung der UN-Konvention hat Deutschland sich auch dazu verpflichtet, genügend gut qualifizierte Lehrkräfte bereitzustellen, damit Kinder mit Behinderung angemessen gefördert werden. Und nur mal als Erinnerung: Die UN-Konvention sieht ein individuelles Klagerecht vor, so dass wir die Zielsetzung, dass 80% der Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf an Regelschulen zu unterrichten sind, nicht auf die leichte Schulter nehmen sollten.

Aus unserer Sicht sind Förderzentren nach wie vor der richtige Weg zur Integration - aber nur, wenn dieses Konzept weiterhin flexibel genutzt wird. Es muss also Förderzentren mit Unterricht und als „Schulen ohne Schülerinnen und Schüler“ geben. Nur so werden wir erreichen, dass wir in Schleswig-Holstein unsere Spitzenposition – zum Wohle der betroffenen Kinder - weiter ausbauen können.

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