Rede · 10.03.2004 Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung

Dass sich der deutsche Föderalismus in einer Krise befindet, ist keine neue Erkenntnis. Damit haben sich Politik und Wissenschaft seit Jahren befasst. Zumal unser Föderalismus zu keiner Zeit am Ideal einer klaren Aufgabentrennung zwischen der Bundes- und der Landesebene orientiert war. Das Bundesstaatsprinzip hat in der Bundesrepublik Deutschland immer stärker Züge eines kooperativen Föderalismus angenommen - mit der Konsequenz, dass die Entscheidungsebenen zwischen Bund und Ländern zunehmend verflochten und vermischt sind. Diese Entwicklung ist bereits in der Konstruktion des Grundgesetzes festgelegt, das den Bund und die Länder zur engen Zusammenarbeit bei einer Vielzahl staatlicher Aufgaben verpflichtet. Ein herausragendes Merkmal dafür ist bekanntlich der Bundesrat, der die Länder an der Gesetzgebung des Bundes mitwirken lässt.

Die Verfassungsreform von 1969 stellt in dieser Hinsicht einen markanten Einschnitt dar. Sie räumt dem Bund die Befugnis ein, die Länder auf eine einheitliche Konjunktur- und Haushaltspolitik zu verpflichten. Im Gegenzug haben die Länder weitreichende Zustimmungsrechte über den Bundesrat erhalten. Ergebnis dieser Entwicklung ist eine weitere Verstärkung des kooperativen Föderalismus, der sich nunmehr auch auf jene Bereiche erstreckt, die in der Gesetzgebungskompetenz der Länder verblieben sind. Verlierer dieses Prozesses sind die Landesparlamente in ihrer Funktion als Gesetzgeber und damit auch als Mitgestalter der Politik. Ihr Kompetenzverlust wird durch den Bundesrat nicht kompensiert. Die Landtage nehmen somit allenfalls auf der Länderebene ihre Kontrollfunktion wahr.

Mit der Einführung der Gemeinschaftsaufgaben, wurde ein zusätzliches Instrument der Politikverflechtung geschaffen. Denn sie verpflichten Bund und Länder zur gemeinsamen Planung, Entscheidung und Finanzierung bei Aufgaben, die grundsätzlich in den Kompetenzbereich der Länder fallen. Mit Hilfe von Finanzzuweisungen hat der Bund so Zugang zu Aufgabenbereichen der Länder. Zusätzlich hat der Bund seinen Einfluss auf die Länder über seine Kompetenzen in der Rahmengesetzgebung ausgeweitet.

Dass eine Korrektur dieser Entwicklung notwendig ist, ist mittlerweile unbestritten. Worüber momentan gestritten wird, ist die Frage, wie eine Reform der bundesstaatlichen Ordnung auszusehen hat und mehrheitsfähig gemacht werden kann. Denn am Ende dieses Prozesses wird eine Grundgesetzänderung stehen, daran geht kein Weg vorbei.


Hinzu kommt, dass es nicht möglich sein wird, einfach „reinen Tisch“ zu machen und die Figuren wie bei einem Schachspiel neu auf dem Brett zu verteilen. Wir müssen schon von der real existierenden Wirklichkeit ausgehen, und die besagt u.a., dass die finanziellen Verflechtungen von Bund und Ländern nur unter dem Motto „es darf keine Verlierer geben“ entwirrt werden können. Dazu gehört auch – wie es unser Landtagspräsident auf dem Föderalismuskonvent hier im Landeshaus Ende November letzten Jahres formulierte: Deutschland müsse den gesellschaftlichen Wandel verkraften. Die Folge seien verstärkte Kooperationen, aber auch ein stärkerer interner Wettbewerb zwischen den Standorten. „Dafür müssen innerhalb des föderalen Systems die Voraussetzungen geschaffen werden.“

Neu ist dennoch, dass wir aus Sicht des SSW mit dem Lübecker Föderalismuskonvent der Landesparlamente eine neue Zeitrechnung erhalten haben. Nicht nur, weil sich dort erstmals die Landesparlamente mit geballter Kraft zu Wort meldeten, sondern auch, weil im Ergebnis deutlich wurde, dass es bei einer Reform des Föderalismus nicht in erster Linie darum gehen kann, wie Gesetzgebung effektiver und transparenter gestaltet werden kann. Mit der Lübecker Erklärung wurde die Stärkung der Landesparlamente in den Mittelpunkt der Debatte gestellt, und genau dort gehört sie auch hin.

Der deutsche Föderalismus ist ein kooperierender und kein konkurrierender Föderalismus – nicht Wettbewerb, sondern Solidarität fordert das Grundgesetz. Er ist aber auch ein „Exekutivföderalismus“ – soll heißen: die Landesparlamente nehmen nicht an dem politischen Entscheidungsprozess auf Bundesebene teil. Für die Länder sprechen die Landesregierungen. Das tun sie im Bundesrat, wo mittlerweile ca. 70% aller Gesetze des Bundestages noch mal beschlossen werden müssen – am Anfang der Geschichte der Bundesrepublik waren es 30%.

Dennoch kann es aus Sicht des SSW keine zwei Meinungen dazu geben, dass die Lübecker Föderalismuskonferenz maßgeblich dazu beitrug, dass Bundestag und Bundesrat im Oktober letzten Jahres beschlossen, eine Kommission zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung einzusetzen. – Nicht unbedingt, um das Anliegen der Landesparlamente ohne Wenn und Aber umzusetzen, sondern vielmehr, um weiterhin die „Meinungsführerschaft“ aufrecht erhalten zu können. Nur so lässt sich erklären, dass die Vertreter der Landtage, sechs an der Zahl, nur mit beratender Stimme an der Kommissionsarbeit teilnehmen. – Und dass die Teilnahme auch noch mühsam erstritten werden musste.

Doch nun gibt es diese Kommission, und alle sind gewillt, konstruktiv mitzuarbeiten – und das ist gut so. Sie ist ein erster, wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Somit ist allen auch bewusst, dass ein Scheitern der Arbeit die Föderalismusdebatte um Jahre zurückwerfen wird. Zurecht warnte Herbert Prantl von der „Süddeutschen Zeitung“ auf dem vorher genannten Föderalismus-Symposium in Kiel davor, dass die „Debatte über die Reform nicht befriedigender als die Reform selbst werden dürfe“. Schon jetzt, sagte er, sei in Bezug auf den Bundesrat von einer „Blockademaschinerie“ die Rede. „Das neue Wappentier des Bundesrates wird der Sündenbock sein“, fürchtete Prantl.

Auf den Punkt gebracht heißt das: eine neue Machtverteilung zwischen Bund und Ländern ist letztlich notwendig aus demokratischen Gründen. Wenn der Bürger nicht mehr klar ausmachen kann, wer für was zuständig ist, dann verliert die Wahl an sich an Wert. Die steigende Politikverdrossenheit in Deutschland lässt grüßen, füge ich hinzu. - Das tut sie in Klammern bemerkt auch, weil sich der Bundesrat, wie wir ihn heute kennen, so schön parteipolitisch instrumentalisieren lässt. Oder ist die Behandlung des Zuwanderungsgesetzes im Bundesrat schon Schnee von gestern?

Die Bundesstaats-Kommission hat die Aufgabe, Vorschläge zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung mit dem Ziel zu erarbeiten, die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit von Bund und Ländern zu verbessern, die politischen Verantwortlichkeiten deutlicher zuzuordnen sowie die Zweckmäßigkeit und Effizienz der Aufgabenerfüllung zu steigern. Dabei soll sie insbesondere die Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen auf Bund und Länder, die Zuständigkeiten und Mitwirkungsrechte der Länder bei der Gesetzgebung des Bundes sowie die Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern überprüfen. Auch die Weiterentwicklung der Europäischen Union und die Situation der Kommunen soll dabei Berücksichtigung finden. So steht es zu lesen auf der Homepage des Bundesrates.

Die Zielsetzung der Kommission ist eher pragmatisch als ideologisch einzuordnen – was für sie spricht, weil es dadurch möglich sein sollte, die Probleme unseres Föderalismus konkret zu diskutieren. Andererseits haben wir es mit so vielen „Kloppern“ zu tun – mit so vielen ungelösten Fragen – dass bei uns die Furcht aufkam, die Kommission könnte so sehr mit Themen überfrachtet sein, dass sie auch daran ersticken könnte. Von allen Beteiligten ist also Selbstdisziplin und ein Wille zum positiven Handeln gefordert.

Vor diesem Hintergrund begrüßt der SSW ausdrücklich, dass die Fraktionen des Landtages über seine beiden Kommissionsmitglieder – den Landtagspräsidenten und den Herrn Oppositionsführer – in den Fortgang der Arbeit einbezogen werden. Wir begrüßen weiterhin, dass Landtag und Landesregierung in dieser Angelegenheit mit einer Stimme sprechen.

Schon in der Vorbereitung zum Lübecker Konvent wurde deutlich, dass uns die Forderung nach einem „Wettbewerbsföderalismus“ in der Fortsetzung der Reformarbeit weiter beschäftigen wird. Als erstes Signal kann in diesem Zusammenhang die Grundgesetzänderung von 1994 gesehen werden, die in Artikel 72 an Stelle von der „ Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“ nunmehr von der „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse“ spricht. Heute nun stellt sich für uns alle die Frage, wie weit wir den Weg des Wettbewerbsföderalismus gehen wollen – oder gehen können, ohne dass wir dadurch die bundesstaatliche Ordnung auf den Kopf stellen. Denn richtig ist ja, wie von der Ministerpräsidentin hervorgehoben: Die Solidarität zwischen den Ländern hat Verfassungsrang – der Wettbewerb nicht!

Das Leitbild eines wettbewerbsorientierten Föderalismus wird vor allem durch die süddeutschen Ministerpräsidenten propagiert – unterstützt von CDU und FDP. Für den SSW steht fest, dass es bei dieser Auseinandersetzung nicht um parteipolitische Profilierung gehen kann. Schleswig-Holstein ist eben nicht Bayern. Für uns hört der Wettbewerbsföderalismus spätestens dort auf, wo die Selbständigkeit unseres Landes tangiert ist.

Auch wir wollen aber, dass die Finanzbeziehungen von Bund und Ländern neu geregelt werden – dass es zu einer Entflechtung von Gemeinschaftsaufgaben und Mischfinanzierungen kommt. Und wir erwarten, dass die Bundesstaats-Kommission konsensfähige Vorschläge erarbeitet. Dabei sollte man übrigens nicht vergessen, dass man nicht bei Null anfangen braucht, denn die Reformdiskussion findet ja nicht nur im politischen Raum, sondern auch in der Wissenschaft statt – und dies schon seit vielen Jahren. Ernst zu nehmen sind aus unserer Sicht z.B. die Reformvorschläge der Bertelsmann Stiftung unter dem Titel „Entflechtung 2005“. Die dort enthaltenen Maßnahmen zur Dezentralisierung und Entflechtung sollen die Eigenverantwortung der Länder stärken – begleitet von Ausgleichsmaßnahmen für die wirtschaftlich schwächeren Länder. Vorgeschlagen wird u.a., die Rahmengesetzgebung durch eine „Grundsatzgesetzgebung“ zu ersetzen, die den Bund nur zu allgemein leitenden Rechtssätzen zur Sicherstellung der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse befugt. Diese können die Länder ausgestalten und an die unterschiedlichen Verhältnisse anpassen.

Konkret stimmen wir der Landesregierung zu, wenn sie hervorhebt, dass der Rückzug des Bundes aus den im Grundgesetz aufgeführten Gemeinschaftsaufgaben für Schleswig-Holstein nur hinnehmbar ist, wenn im Gegenzug die Bundesmittel vollständig und dynamisiert den Ländern zur Verfügung gestellt werden. Das gilt – das sehen wir genauso – für die Hochschulförderung, für die Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur, für die Verbesserung der Agrarstruktur und den Küstenschutz.

Mit anderen Worten: aus Sicht des SSW werden wir den Spagat – sowohl die Länder zu stärken als auch den Föderalismus zu reformieren – nur hinbekommen, wenn es der Kommission gelingt, Prinzipien und Finanzen miteinander in Einklang zu bringen. Deshalb brauchen wir u.a. auch die Einführung des Konnexitätsprinzips auf Bundesebene. Und wir brauchen in der Fortsetzung der Kommissionsarbeit weiterhin einen Dialog zwischen der Landesregierung und dem Landtag auf der Grundlage der Lübecker Erklärung. Was wir nicht brauchen, ist eine Föderalismusreform „light“ – basierend auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Es muss ein großer Wurf werden, nur so werden wir es schaffen, den Föderalismus in Deutschland zu modernisiert und für die Zukunft fit zu macht.

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