Rede · 28.02.2008 Stoffpläne entrümpeln, individuelle Förderung stärken & Förderung von Ganzangeboten an Gymnasium


Ich kann die Verunsicherung vieler Eltern nachvollziehen, die ihren Kindern unverhältnismäßigen Druck in der Schule ersparen wollen. Die Bildungsministerin hat die Bedenken aufgegriffen und bereits in mehreren Interviews deutlich gemacht, dass sie keineswegs die Gefahr sehe, dass die Stoffpläne überfrachtet seien. Schließlich hätten die Modellprojekte zum Abitur nach zwölf Jahren gezeigt, dass Lehrer und auch Eltern durchaus zufrieden waren.

Dagegen ist nichts einzuwenden. Nur, weil die Überlastung der Schüler und ein möglicher Unterricht am Sonnabend eine wichtige Rolle sowohl im Hamburger Senatswahlkampf als auch im Landtagswahlkampf Niedersachsens gespielt haben, muss es nicht zwangsläufig bedeuten, dass wir in Schleswig-Holstein Probleme mit einer überhöhten Stoffkonzentration haben. Dennoch sind viele Eltern besorgt über Neun-Stunden-Tage für Vierzehnjährige, die kaum noch Zeit für Freizeit und Hobbys hätten.

Der SSW hat bereits frühzeitig vor den negativen Folgen des verkürzten Abiturs hingewiesen. Doch die Bildungspolitik bewegte sich bereits seit Jahren Ziel gerichtet auf das Abitur nach 12 Jahren hin. Ich erinnere mich an eine hitzige Debatte um einen CDU-Antrag aus dem Jahr 2001, als die CDU auf Biegen und Brechen das Abitur nach 12 Jahren im ganzen Land einführen wollte. Ich gab damals zu bedenken und wiederhole es heute, dass der SSW kein Vorhaben unterstützt, dass keine echte Reform des Gymnasiums zur Folge hat und lediglich die Schulzeit verkürzen möchte.

Das neue Schulgesetz möchte uns glauben machen, dass die verkürzte Schulzeit mit einer grundsätzlichen Reform der Oberstufe einhergeht. So ganz kann es nicht stimmen, ansonsten ist die Beliebtheit des Abiturs an den beruflichen Schulen nicht zu erklären. Das so genannte Turbo-Abitur verstärkt ganz eindeutig die soziale Differenzierung. Schwache Schüler werden aus den Gymnasien verdrängt. Schüler und Eltern weichen aber auch ganz aktiv auf die ihnen besser erscheinende Schulform aus. Das ist eine Abstimmung mit den Füßen gegen das herkömmliche Gymnasium. Dort gibt es Probleme, und die sollten wir umgehend anpacken.

Die Erweiterung des Ganztagesangebotes an den Gymnasien weist in die richtige Richtung. Voraussetzung ist allerdings, dass das Ganztagsangebot qualifizierte Unterstützung der Schülerinnen und Schülerinnen beinhaltet. Wer nachmittags den gelernten Stoff vertiefen kann, hat sicherlich am nächsten Tag die besseren Karten. Das zeigt im Übrigen die ständig wachsende Nachfrage an Nachhilfelehrern, die den Schülern, die es sich leisten können, noch einmal in ihrem Tempo erklären, wozu der Lehrer in der Schule keine Zeit hatte.

Wir haben uns in der Vergangenheit bei der Umgestaltung der Oberstufe zu sehr von finanziellen Erwägungen beeinflussen lassen. Das Zentralabitur ist der falsche Weg, weil es den Unterricht steuert und nicht der Unterricht das Abitur. Büffeln und Pauken mögen abfragbares Wissen produzieren, aber es besteht die Gefahr, dass von dem Gelernten herzlich wenig im Langzeitgedächtnis gespeichert wird.

Tatsächlich sollten in der Oberstufe neben reinem Faktenwissen Techniken der Wissensaneignung vermittelt werden, die dem Abiturienten auf jedem Fall zugute kommen, völlig unabhängig davon, ob er studiert oder nicht. Die notwendigen Kenntnisse, Fähigkeiten und Arbeitstechniken sollten grundsätzlich in allen Fächern vertreten sein. Ich fürchte aber, dass sie bei der Faktenhuberei eines Turbo-Abiturs völlig in den Hintergrund geraten. Inzwischen kann jedermann mit einem Zugang zu einem Computer im Internet nachschlagen. Die Bewertung der Funde, ob nun bei Wikipedia oder auf einer Plattform für Videofilmchen, muss man allerdings erst lernen. Dafür braucht man neben dem nötigen Gespür auch ein solides Handwerkszeug. Das sollte die Oberstufe unter anderem vermitteln.

Ich befürchte, dass das Abitur nach zwölf Jahren noch mehr Schüler abschreckt oder behindert, das Abitur überhaupt zu erreichen. Dabei sind die Hürden, um das Abitur zu erwerben, in Deutschland bereits viel zu hoch. Nach einer Empfehlung des Wissenschaftsrates soll der Anteil der Abiturientinnen und Abiturienten eines Altersjahrgangs auf 50% gesteigert werden, um einem drohenden Mangel an wissenschaftlichen Nachwuchskräften vorzubeugen. Tatsächlich erlangen in Schleswig-Holstein weniger als 40% eines Jahrgangs die Hochschulreife. Diese Abiturientenquote ist im internationalen Vergleich zu niedrig.

Geradezu ausgeschlossen sind Schüler, deren Eltern über geringe Einkommen verfügen und/oder einer Migrantenfamilie entstammen. Hier sollten wir intensiver nach den Ursachen fragen, um sie dann auch gleich zu beseitigen. Das sind wir einem demokratischem Schulsystem, das die Chancengleichheit umsetzt, einfach schuldig. Die niedrige Abiturientenrate hängt sicherlich auch damit zusammen, dass viele Ausbildungsgänge im Gegensatz zu anderen Ländern in Deutschland keine akademische Ausbildung erfordern, so wie die Pädagogin oder der Krankenpfleger, die nicht nur Dänemark Berufe sind, die selbstverständlich ein Studium erfordern; nur bei uns nicht.

Das Abitur lohnt sich schlichtweg nicht für junge Menschen, die beispielsweise in einem paramedizinischem Heilberuf arbeiten wollen Von dieser überholten Vorstellung sollten wir uns allerdings verabschieden. Nicht nur an dieser Stelle zeigt sich damit, dass wir niemals isoliert über die Oberstufe reden und entscheiden sollten.

Ungeachtet dessen muss die Oberstufe mit der Universität besser verzahnt sein. Viele Lehrer betreten nach Abschluss ihres eigenen Studiums nie wieder eine Universität. Umgekehrt fordern viele Universitäten Eingangsprüfungen, weil sie gar nicht genau wissen, welche Inhalte und Methoden in der Oberstufe heutzutage vermittelt werden. Eingangsprüfungen lehnt der SSW ab. Sie sind lediglich ein Zeichen für Kommunikationsprobleme zwischen schulischer und universitärer Ausbildung. Die Schüler bzw. Studierenden drohen zwischen die Räder dieses Kastendenkens zu geraten.

Die Forderung, Stoffpläne zu entrümpeln, hilft nicht, die Defizite der gymnasialen Oberstufe zu beseitigen. Zentralabitur und Profilbildung blenden individuelle Bedürfnisse der Schüler und regionale Besonderheiten der Schulen aus. Das halte ich für das Hauptproblem. Es wäre wünschenswert, wenn die Schulen in stärkerem Maße selbst entscheiden könnten, welche Schwerpunkte sie setzen wollen.

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