Rede · 20.06.2025 Wir brauchen endlich konkrete Maßnahmen und neue Lösungen

„Der Bericht zeichnet ein ehrliches und düsteres Bild – aber wirklich effektive Maßnahmen gegen Kinderarmut sucht man vergeblich“

Christian Dirschauer zu TOP 35 - Bericht zur sozialen Situation von Kindern und Jugendlichen in Schleswig-Holstein (Drs. 20/3305)

Das, was die Sozialministerin im Rahmen der Vorstellung dieses Berichts selbst gesagt hat, können wir vom SSW nur unterstützen: Ich zitiere: „Der Bericht legt den Finger in die Wunde. Rund jedes fünfte Kind im Land lebt unterhalb der Armutsgrenze. Ich finde das unerträglich und inakzeptabel. Wir müssen alle politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Hebel in Bewegung setzen, damit alle Kinder faire Zukunftschancen haben.“ Leider ist aber die Erkenntnis, nach der knapp 20 Prozent der jungen Menschen im Land arm sind, alles andere als neu. Und leider werden auch die im Bericht aufgeführten Gegenmaßnahmen seit Jahren wiederholt, ohne dass sich an der Gesamtlage etwas Nennenswertes ändert.

Ich muss ganz ehrlich sagen, dass mich das Thema Kinderarmut zutiefst frustriert. Und ich vermute oder hoffe zumindest, dass es vielen hier ähnlich geht. Alle wissen, dass Kinder aus Familien mit gering qualifizierten oder erwerbslosen Eltern, Kinder von Alleinerziehenden oder mit Migrationshintergrund besonders betroffen sind. Allen ist bekannt, dass Kinder, die in armen Verhältnissen aufwachsen, geringere Bildungschancen, höhere Gesundheitsrisiken und viel zu hohe Hürden haben, um sich aus eigener Kraft aus der Armut zu befreien. Und wir alle kennen die Maßnahmen, die nötig wären, um hier endlich die Trendwende zu schaffen und Kinderarmut wirksam zu bekämpfen. Dazu gehört eine verlässliche, hochqualitative frühkindliche Bildung und ein funktionierender schulischer Ganztag auf der einen und Verbesserungen bei der Erwerbssituation und Arbeitsmarktintegration auf der anderen Seite. Aber diese Maßnahmen werden ganz offensichtlich ebenso wenig mit der nötigen Konsequenz umgesetzt, wie das extrem wichtige Vorhaben einer echten Kindergrundsicherung. 
100.000 Kinder und Jugendliche gelten allein bei uns in Schleswig-Holstein als arm oder armutsgefährdet. Diese Zahl ist einfach nur erschreckend. Und noch viel bitterer ist die Tatsache, dass sich diese Zahl über viele Jahre hinweg kaum verändert hat. Entsprechend betroffene Äußerungen und starke Worte und Bekenntnisse für den Kampf gegen Kinderarmut finden sich bei fast allen Politikern und Parteien. Wir sind uns schnell darin einig, dass es Kinderarmut in einem so reichen Land wie Deutschland gar nicht geben dürfte. Und allen dürfte klar sein, dass es sich kein Kind aussucht, in arme Verhältnisse geboren zu werden. Kein junger Mensch möchte ausgegrenzt werden oder in den Tag starten, ohne zu wissen, ob es etwas Warmes zu essen gibt. Doch wenn wir ehrlich sind, dann kommt gerade von Seiten der Politik zu wenig, um die Situation zu verbessern. Statt aufs Tempo zu drücken, wirkt das, was Berlin aber auch Kiel im Kampf gegen Kinderarmut zu bieten hat, mutlos und zögerlich.

Diesen viel zu passiven Zustand müssen wir aus Sicht des SSW dringend überwinden. Alle staatlichen Ebenen sind dringend aufgefordert, ihren Einsatz gegen Kinderarmut deutlich zu verstärken. Es ist absolut überfällig, dass der Staat mehr Verantwortung für diese Kinder übernimmt und eine stärkere finanzielle Unterstützung für arme oder von Armut bedrohte Familien organisiert. Es reicht nicht, dieses Thema nur theoretisch zu bewegen und die nächste Studie zu Ausprägungen oder Ursachen von Armut in Auftrag zu geben. Wir kennen das Problem. Und wir haben nahezu brutal aussagekräftige Zahlen. Durch das Sammeln weiterer Daten oder durch neue Statistiken ist niemandem, der Arm ist, geholfen. Wir brauchen konkrete Maßnahmen und neue Lösungen. Und gerade, weil der Weg aus der Armut schwierig ist und Kinder aus armen Familien oft arm bleiben, brauchen wir eine zielgerichtete und niedrigschwellige Unterstützung für die Betroffenen.

Wenn wirklich alle Kinder gleiche Chancen auf Bildung und Gesundheit haben sollen, müssen wir auch ihre materiellen Lebensbedingungen verbessern. Es wird sehr wahrscheinlich nicht reichen, Armutskonferenzen abzuhalten und gebetsmühlenartig den Mehrwert kommunaler Präventionsketten zu wiederholen. Wir brauchen mehr. Und hier vor allem natürlich eine einfach handhabbare und sozial gerechte Kindergrundsicherung. Ziel muss sein, dass arme oder armutsgefährdete Haushalte deutlich bessergestellt werden als bisher. Das wird einige Milliarden Euro jährlich kosten und schmeckt dem neuen Bundesfinanzminister vermutlich ebenso wenig, wie seinem Vorgänger. Aber ich sehe keine Alternative zu dieser Maßnahme. Doch auch das Land Schleswig-Holstein muss endlich seine Hausaufgaben erledigen und Bildung von der Kita bis zur Hochschule für alle jungen Menschen gratis machen. Und wenn wir Kinderarmut wirklich systematisch und nachhaltig bekämpfen wollen, brauchen wir dringend weitere Maßnahmen wie eine echte Lernmittelfreiheit, ein elternunabhängiges Bafög oder den kostenlosen Zugang junger Menschen zu Bibliotheken, Museen, Sport- und Kulturangeboten. 

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