Rede · 25.11.2021 Wirksame Unterstützung und finanzielle Entlastung für pflegende Angehörige

„Der wahre Pflegenotstand droht in der Häuslichkeit“

Christian Dirschauer zu TOP 47 - Bericht zur Situation pflegender Angehöriger in Schleswig-Holstein (Drs. 19/3099(neu), 19/3402)

Ich habe schon in anderen Pflege-Debatten den Blick auf die familiale Pflege und auf die besondere Situation pflegender Angehöriger gelenkt. Die Gruppe derjenigen, die ihre Familienangehörigen mit Hilfe ambulanter Dienste oder auch ganz allein pflegen, ist zwar sehr groß, aber eben auch sehr leise. Laut Sozialverband Deutschland wurden im Jahr 2019 68 Prozent der bundesweit 3,5 Millionen Pflegebedürftigen ausschließlich durch ihre Angehörigen versorgt. Aufgrund der lückenhaften Statistik wird die Dunkelziffer sogar auf rund 5,5 Millionen Pflegebedürftige und bis zu 5 Millionen pflegende Angehörige geschätzt. Der Umfang familiärer Pflege entspricht damit weit über 3 Millionen Erwerbsarbeitsplätzen oder, laut aktuellem AOK Pflege-Report, einer Wertschöpfung von 90 Milliarden Euro. Man kann also sagen, dass wir es hier mit einer durchaus relevanten Größe zu tun haben. 

Für uns vom SSW war aber nicht nur die Zahl der pflegenden Angehörigen, sondern vor allem ihre sehr unterschiedliche und häufig schwierige Lebenssituation ausschlaggebend für diesen Berichtsantrag. Familiäre Pflege ist mehr als die Pflege zwischen Eheleuten im fortgeschrittenen Alter. Es sind zum Beispiel auch Kinder betroffen. Und zwar sowohl als Pflegebedürftige als auch in der Rolle der Pflegenden. Während also viele pflegende Angehörige im Rentenalter sind, stehen andere mit beiden Beinen im Arbeitsleben oder gehen sogar noch zur Schule. Ich denke damit wird deutlich, dass diese Familien in ihrem Alltag vor ganz unterschiedlichen Herausforderungen stehen. Und so wird auch klar, dass die Angebote zur Unterstützung und Entlastung von pflegenden Angehörigen idealerweise vielfältig und flexibel sein müssen. 

Der vorliegende Bericht erkennt diese wichtige Pflegearbeit grundsätzlich an und hilft dabei, sich ein Bild von der Situation pflegender Angehöriger in Schleswig-Holstein zu machen. Er liefert annäherungsweise Zahlen und Fakten und beschreibt zusätzliche Belastungen wie etwa durch die Corona-Pandemie. Hierfür möchte ich den Mitarbeitenden im Sozialministerium ausdrücklich danken. Doch bei allem Verständnis dafür, dass aufgrund der Pandemie die Hütte brennt, muss ich an dieser Stelle auch Kritik loswerden: Mich wundert sehr, dass die Situation von Menschen mit Migrationshintergrund oder auch das Thema Armut mit keinem Wort erwähnt werden. Das bedrückt mich sehr, denn Migrantinnen und Migranten pflegen mindestens genau so häufig Angehörige und stehen nicht selten vor zusätzlichen Herausforderungen. Und auch das Risiko durch Pflege zu verarmen ist so akut, dass man es nicht einfach ignorieren kann. Diese Themen sollten wir daher dringend mit in die Ausschussberatung nehmen. 

Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass es durchaus erfüllend sein kann, Familienmitglieder mit Pflegebedarf in den eigenen vier Wänden zu versorgen. Aber ich behaupte auch, dass familiäre Pflege in den wenigsten Fällen nur harmonisch oder gar romantisch ist. Eher das Gegenteil ist der Fall: Viele Pflegende zerreißen sich förmlich, um ihren Angehörigen gerecht zu werden. Verschiedene Befragungen unter Betroffenen bestätigen diesen Eindruck und zeigen deutlich, wie belastet ihr Alltag ist. Spätestens unter den erschwerten Bedingungen der Coronapandemie können wir festhalten, dass Pflege krank machen kann. Laut Bericht geben über die Hälfte aller pflegenden Angehörigen an, dass sich ihr Gesundheitszustand verschlechtert hat. Und rund ein Drittel schätzt die eigene Lebensqualität als schlecht oder sehr schlecht ein. Ich denke, damit hat nicht zuletzt die Landespolitik einen klaren Auftrag!

Der vorliegende Bericht bietet hier zwar Situationsbeschreibungen aber keine Lösungen. Statt Lehren aus bald zwei Jahren Pandemie oder aus vielen Jahren der Überlastung unter pflegenden Angehörigen zu ziehen, wird meist auf nicht bedarfsdeckende Strukturen verwiesen. Es ist und bleibt aber zu wenig, wenn wir uns nur in Sonntagsreden bei den pflegenden Angehörigen bedanken und ihren Einsatz loben. Wir müssen diese Gruppe viel stärker unterstützen und sie vor allem auch deutlich stärker entlasten. Der Verweis auf Pflegestützpunkte, die zwar gute Arbeit leisten aber spätestens mit Corona völlig überlastetet sind, reicht nicht. Auch die theoretische Möglichkeit, von Pflegeberatern, Tagespflegeangeboten oder Gesprächen im Rahmen der Selbsthilfe Gebrauch zu machen, ist zu wenig. Nebenbei bemerkt scheitern diese Angebote häufig schon am mangelnden Personal. Und auch Entlastungsangebote wie etwa Kurzzeitpflegeplätze sind schlicht nicht bedarfsdeckend. 

Aus Sicht des SSW ist es höchste Zeit, dass wir endlich wirksame Unterstützung und finanzielle Entlastung für pflegende Angehörige organisieren. Sie brauchen mehr Flexibilität, weniger Bürokratie und bessere Möglichkeiten, selbstbestimmt über die Art der Versorgung zu entscheiden. Und deshalb müssen wir nicht nur für mehr Entlastung durch einen Ausbau der Kurzzeitpflege sorgen, sondern uns auch dafür einsetzen, dass eine echte Lohnersatzleistung für Pflegezeiten eingeführt wird. 

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