Rede · 21.11.2025 Die Stadtbild-Diskussion greift viel zu kurz

„All diesen Fragen wollen wir als SSW uns weiterhin gerne widmen. Sie sind uns wichtig. Aber nicht, wenn es uns nicht wirklich um eine Ursachenbekämpfung geht.“

Sybilla Nitsch zu TOP 33 - Nach der Stadtbild-Dikussion: Es braucht geeignete Lösungen (Drs. 20/3789)

Ich habe Mittwoch Abend ein Video von der Verleihung des Talisman-Preises gesehen, der von der Deutschlandstiftung Integration für gesellschaftlichen Zusammenhalt verliehen wird. Friedrich Merz ist Schirmherr der Stiftung und hielt eine Rede. Als er jedoch die Bühne betrat, verließen etwa 30 Stipendiatinnen und Stipendiaten den Saal. Sie alle trugen Sticker mit der Aufschrift: 
„Wir sind das Stadtbild“.

Jetzt könnte man darauf sagen: „Die waren doch gar nicht gemeint!
Das sind doch die Guten, die Fleißigen!“.
So wie es oft heißt, nationale Minderheiten sind nicht gemeint, die Sinti und Roma erleben das mit rassistischen Auswüchsen aber anders im Stadtbild. Aber ich sage Ihnen eins: Wer gemeint ist, sieht man von außen nicht.
Diese Stipendiatinnen und Stipendiaten wissen, dass sie von Friedrich Merz´ Aussagen ebenso angesprochen sind, wie diejenigen, die Merz gemeint haben will.
Sie wissen, dass ihre Eltern, ihre Großeltern angesprochen sind.
Sie wissen, dass sie, bevor sie Rassismus erleben, bevor sie jemand als „Problem im Stadtbild“ ansieht, weder nach ihrem Schulabschluss noch nach ihrer Berufstätigkeit gefragt werden. 
Und sie wissen, dass das rhetorisch gängige Bild von Nützlichkeit von Menschen, keine Sicherheit bietet. Menschen in Nützlichkeiten einzuteilen wird sehr schnell sehr schwierig.

Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir die Debatte auch nicht mehr in den Landtag ziehen müssen. Denn ich habe die Aussagen unseres Kanzlers bis heute nicht verstanden.
Und das, obwohl ich in der Zwischenzeit zig Artikel mit Einleitungen wie: „Was hinter Merz Aussage steckt..“ oder „Was der Kanzler wirklich meint..“ gelesen habe. 
Was sich darin vor allem anderen zeigte ist, wie problematisch die immer wieder missglückte Kommunikation unseres Kanzlers ist. 
Ein Kanzler, der „Probleme im Stadtbild“ nennt und diese mit „Abschiebungen“ beheben möchte.
Ein Kanzler, der später süffisant grinsend verlauten lässt, er habe sich nicht zu entschuldigen.
Ein Kanzler, dem völlig egal zu sein scheint, welche Stereotypen er reproduziert, wen er aktiv verletzt und welche Deutungsmöglichkeiten er zulässt.

Gibt es Probleme im Stadtbild?
Selbstverständlich.
Fallen auch mir Probleme auf, wenn ich durch Innenstädte oder Bahnhofsvorplätze gehe?
Natürlich. 
Mir fallen die Folgen von Armut auf.
Mir fällt Obdachlosigkeit auf, Drogenmissbrauch, mangelnder Wohnraum, Musik und Architektur, die wohnungslose Menschen verdrängen soll,
irgendwo hin, Hauptsache weg aus unserem Blickfeld.
Das ist es, was mir auffällt. Aber darüber sprechen wir hier nicht, denn unser Kanzler geht mit anderen Augen durch die Straßen dieser Republik. Und das ist traurig.

Ich komme zum Antrag der FDP-Fraktion. 
Zwei Ansätze im FDP-Antrag könnten wir als SSW eigentlich unterstützen und zwar völlig unabhängig von irgendwelchen hochgejazzten Debatten. 
Erstens: Der Punkt Vier im Antrag zur Entwicklung des öffentlichen Raums und eine damit einhergehende Weiterentwicklung der Städtebauförderung im Sinne der Kommunen. 
Zweitens: Der Punkt 2, dessen ersten Satz ich jetzt einmal unter den Tisch fallen lasse. Was stimmt ist, dass Kürzungen beim DaZ-Unterricht sowie Absenken der Unterrichtsversorgung insgesamt und der Lehrstellenabbau in der Beruflichen Bildung sind wirklich der absolut falsche Weg.

Aber dieser Antrag hat uns als SSW leider schon in seinen ersten Sätzen verloren. Ich sage Ihnen wieso. 
Sie sprechen von objektiven Fakten wie „die Kriminalitätsstatistiken“, die so einfach nicht fair sind.
Kriminalitätsstatistiken sind generell nicht objektiv, auch nicht, wenn sie von der Polizei kommen.
Sie sind immer abhängig von menschlichen Entscheidungen, davon was als Straftatbestand gilt, welche Kategorien aufgenommen und welche Informationen geteilt werden. 
Wir wissen aus Studien, dass Personen, die als „fremd“ wahrgenommen werden, häufiger angezeigt werden als Personen, die als „deutsch“ wahrgenommen werden. Bei jugendlichen Gewaltdelikten wirkt sich das insofern aus, als dass in 6,6 Prozent der Fälle angezeigt wird, wenn Opfer und Täter deutsch sind. Ist jedoch das Opfer deutsch und der Täter nichtdeutsch, wird in 12 Prozent die Polizei informiert.

Und schon gar nicht ist es objektiv, was hieraus den Weg in die Medien findet. 
Ein Beispiel:
Ausländische Tatverdächtige sind massiv in der Medienberichterstattung zu Kriminalitätsstatistiken überrepräsentiert. Deutsche Leitmedien berichten weit häufiger über Gewalttaten von Ausländern, als es ihrem Anteil in der Polizeilichen Kriminalstatistik entspricht. Mehr noch: Die Überrepräsentation von ausländischen Tatverdächtigen in deutschen Leitmedien ist stärker denn je zuvor, so kann man aus einer kürzlich veröffentlichten Langzeitstudie des Journalismusprofessors Thomas Hestermann der Macromedia Hochschule in Hamburg schließen. 
Ausländische Tatverdächtige sind laut Studie in den Medien etwa dreifach überrepräsentiert.
Tatverdächtige aus muslimisch geprägten Herkunftsländern sogar mehr als vierfach. 
Was es nach der Stadtbild-Diskussion also eigentlich auch ganz dringend bräuchte wäre eine ernsthafte Medienkritik und Medienbildung.

Alle Bürgerinnen und Bürger sollten sich zu jedem Zeitpunkt im öffentlichen Raum sicher fühlen, so steht es in Ihrem Antragstext.
Ja, das wäre schön. Aber ich frage mich da schon:
Wann war das denn jemals so? 
Ich bin eine Frau, die mit Mitte 40 auf über 30 Jahre zurückblicken kann, in denen die Sicherheit im Öffentlichen Raum eine Rolle für mich spielte. Ich habe nicht vergessen: wir hatten immer Angst.
An Bahnhöfen, in Zügen, auf dem Rückweg von Partys, in dunklen Seitenstraßen, in Parkanlagen im Dunkeln oder auf Zeltfesten.
Für Frauen und queere Menschen war der öffentliche Raum noch nie zu jeder Tageszeit sorgen- oder angstfrei. 
Aber ich kann Ihnen auch nochmal als eine der Töchter, die Merz im Nachgang wohl meinte, versichern, dass wir wissen, dass die größte Gefahr für unsere körperliche Unversehrtheit und unser Leben nicht irgendwelche Angstszenarien draußen sind. Sondern für Frauen ihre Partner und Ex-Partner.
Eine Statistik, die man immer wieder hervorheben muss:
Statistisch gesehen wird in Deutschland fast jeden Tag eine Frau durch ihren Partner oder Ex-Partner getötet. Tötungen durch Partner oder Ex-Partner sind die häufigste unnatürliche Todesursache bei Frauen weltweit und auch in Deutschland. 
Es ärgert mich maßlos, wenn Frauenrechte und die Sicherheit von Frauen dann bemüht werden, wenn gegen Geflüchtete, gegen Migrantinnen und Migranten Stimmung gemacht werden soll.

Apropos Stimmungsmache, ich habe mir große Mühe gegeben, den Punkt 5 im Antrag, „Sozialmissbrauch“ nicht im Zusammenhang mit Flucht und Migration zu lesen, weil ich es bei allen bekannten Problemen die wir mit der Anerkennung von Schulabschlüssen, Zugang zu Praktikumsplätzen für Geduldete und Einstufungen von Berufsausbildungen haben, wirklich absurd fände so zu tun, als wenn es in Deutschland nicht ein System gäbe, das es Geflüchteten erschwert, in den Arbeitsmarkt integriert zu werden.
Und ich spare mir hier einmal Ausführungen zu den zig Milliarden von CumEx, CumCum und WireCard, die der deutschen Staatskasse entwendet wurden und die uns als Staat deutlich mehr kosten, als es Sozialleistungen einer Solidargemeinschaft jemals könnten.

Abschließend kann ich immer noch feststellen:
Ich ärgere mich.
Ich ärgere mich, wenn wir uns in unserer Aufmerksamkeit immer wieder so dermaßen verirren und verwirren lassen. 
Wenn es uns um das Sicherheitsgefühl von Menschen geht, wissen wir doch, wie öffentliche Räume zu gestalten sind. 
Wenn es um Kriminalitätsbekämpfung geht, wissen wir, welche Rolle Bildung, Armut, eigenes Gewalterleben, das soziale Umfeld und gewaltlegitimierende Männlichkeitsnormen spielen. 
Und wenn es uns explizit um die realistischen Ängste geht, die Frauen weiterhin haben müssen, wissen wir, welche Schritte uns noch in der Umsetzung der Istanbul-Konvention fehlen.

All diesen Fragen wollen wir als SSW uns weiterhin gerne widmen. Sie sind uns wichtig. Aber nicht, wenn es uns nicht wirklich um eine Ursachenbekämpfung geht. Und nicht ausgelöst durch einen Kanzler, dessen Antwort darauf Abschiebungen sind.

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