Rede · 30.09.2005 Europäische Identität in Schleswig-Holstein schaffen

„Europa in der Vertrauenskrise“. Dies war jüngst die Überschrift in einer angesehenen deutschen Tageszeitung, in der über die aktuelle Krise der Europäischen Union nach den beiden Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden zur Europäischen Verfassung berichtet wurde. Und in der Tat ist es wohl nicht übertrieben zu sagen, dass die Verantwortlichen in der EU nach dem Nein zur Verfassung völlig kopflos und hilflos agieren.

Heute – knapp vier Monate nach den Abstimmungsniederlagen – und auch nach dem gescheiterten Gipfel zur zukünftigen Finanzierung der EU stehen wir in Brüssel vor einem Scherbenhaufen. Welchen Kurs die EU in Zukunft einschlagen soll, ist zwischen den verschiedenen Mitgliedsstaaten und den politischen Führungspersönlichkeiten dieser Staaten höchst umstritten. Das hängt natürlich nicht zuletzt mit der innenpolitischen Situation in diesen Ländern – in Frankreich, Großbritannien und Deutschland - zusammen. Während sich die Führung in Frankreich und Deutschland in einer wirtschaftlichen  und politische Krise befindet und kaum Impulse für den zukünftigen EU-Kurs geben kann, wird der britische Premierminister Blair von den erbitterten EU-Gegnern im Lande zu einem harten Kurs in Brüssel gezwungen.

Auch die Ergebnisse der Parlamentswahlen in Polen am letzten Sonntag, wo eine stark nationalistische bürgerliche Partei als Sieger hervorging, sind Teil eines europaweiten Trends, wo man mit populistischen Parolen gegen die europäische Integration auf Stimmenfang gehen kann. Bei den Streitigkeiten über die zukünftige Entwicklung der EU geht es sowohl um Fragen der Vertiefung der Zusammenarbeit und über die wichtige Frage, wo die Grenze der Aufnahmefähigkeit der Europäischen Union ist.

Die britische EU-Präsidentschaft hat die schwere Aufgabe, die verschiedenen Interessen aufzugreifen und in handlungsfähige Politik umzusetzen. Ob dies in den nächsten Monaten gelingt, ist mehr als zweifelhaft. Zum einen, weil Großbritannien selbst einer der Hauptakteure bei dem gescheiterten EU-Gipfel im Juni war, und zum anderen, weil die Vorschläge aus London nicht in allen Ländern der EU Beifall finden.

Sicherlich hat Premierminister Tony Blair im Prinzip Recht, wenn er die Auffassung ver-tritt, dass die EU nicht in alle Ewigkeit über 40% ihres Budgets für landwirtschaftliche Subventionen ausgeben kann. Wir müssen in Europa umsteuern und in Zukunft viel mehr Geld für Bildung, Wissenschaft und Forschung ausgeben, wenn wir im globalen Wettbewerb mithalten wollen. So weit kann man Großbritannien sicherlich folgen.

Aber der Teufel liegt auch hier im Detail. Denn die jetzt geplante Umschichtung für eine Wachstumsinitiative der britischen Präsidentschaft trifft auch die für Schleswig-Holstein so wichtige Strukturförderung der EU. Nach Angaben der Landesregierung würden damit die 250 Millionen Euro für strukturschwache Regionen in Schleswig-Holstein in Gefahr kommen. Der SSW begrüßt daher die Initiative der Minister Döring und Austermann, die in einem Brief die noch amtierende Bundesregierung dazu auffordern, dass sie sich ge-gen den britischen Plan einsetzt.

Allerdings zeigt gerade dieses Beispiel wie schwer es ist, innerhalb der Europäischen Union auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen. Die Verteilungskämpfe und Interessengegensätze sind seit dem Beitritt der osteuropäischen Länder noch größer geworden. Mit der Aufnahme von weiteren neuen Ländern werden die Probleme nicht kleiner werden.

Der dänischen Ministerpräsident Anders Fogh Rasmussen hat Anfang dieser Woche erklärt, dass er den Verfassungsentwurf in der jetzigen Form für tot hält, und dass er seine begründeten Zweifel hat, ob die Türkei in die EU aufgenommen werden kann. Dies hat in Dänemark für großes Aufsehen gesorgt, da der dänische Ministerpräsident als starker EU-Befürworter gilt. Fogh Rasmussen plädiert für eine Denkpause in der Entwicklung der EU und fordert von den Politikerinnen und Politikern, dass sie mit den Bürgerinnen und Bürgern ins Gespräch kommen – bevor man neue Beschlüsse trifft. Das ist aber leichter gesagt als getan. Das wissen wir alle. Von daher begrüßt der SSW, dass sich der Schleswig-Holsteinische Landtag gleich in zwei Anträgen heute mit dieser wichtigen Zukunftsfrage beschäftigt.

Überall in Europa sind die Menschen besorgt über die Entwicklung und sehen im Mo-ment kaum noch den Nutzen der europäischen Zusammenarbeit. Deshalb muss es in Zukunft darauf ankommen, den Menschen in Europa die Vorteile dieser Zusammenarbeit näher zu bringen. Dabei kommt man nicht umhin, den Grad der Zusammenarbeit näher zu definieren

Der SSW plädiert dafür, dass man die idealistische Idee eines vereinten Europäischen Bundesstaates endlich auch offiziell zu den Akten legt und eine pragmatische europäische Zusammenarbeit zwischen eigenständigen Nationen anstrebt. Wofür Brüssel, Berlin und die einzelnen Regionen künftig zuständig sein sollen, muss also dringend geregelt werden. Grundsätzlich unterstützt der SSW daher den Ansatz von CDU und SPD, dass das Europa der Regionen gestärkt werden muss. Denn nur vor Ort können die Menschen von den Vorzügen der europäischen Zusammenarbeit überzeugt werden.

Allerdings haben wir immer noch unsere Zweifel, ob denn der Ausschuss der Regionen, der ja eine weitere Bürokratisierung der Europäischen Union darstellt, wirklich das geeignete Mittel dafür ist. Aus unserer Sicht wäre es besser, die Regionen zu stärken, z.B. indem den deutschen Bundesländern wirkliche Gestaltungsmöglichkeiten zurückgegeben werden. Der Umweg über den Ausschuss der Regionen ist wenig transparent und somit ein Teil des Problems und nicht die Lösung.

Ausdrücklich zustimmen kann der SSW Punkt 3 des CDU-SPD-Antrages, wo der Kooperation von Nachbarregionen eine hohe europapolitische Bedeutung beigemessen wird. Gerade in der Zusammenarbeit mit Dänemark und den Partnern des Parlamentsforums „Südliche Ostsee“ müssen wir konkrete Ergebnisse für die Bürgerinnen und Bürger erreichen. Darum geht es doch.

Und deshalb, Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen: Verzeihen Sie mir, dass ich mit dem etwas abgehobenen Begriff einer „europäischen Identität“ - die Sie scheinbar per Antrag in Schleswig-Holstein schaffen wollen - nicht viel anfangen kann. Ich glaube einfach nicht daran, dass man den Menschen von oben herab eine europäische Identität aufzwingen kann. Das ist eine zu abstrakte Diskussion, mit der man auch nicht viele Schülerinnen und Schüler erreichen wird - obwohl es richtig ist, im Unterricht mehr über die Europäische Union zu lernen.

Übersehen darf man dabei aber nicht, dass man in vielen europäischen Ländern sehr wohl im positiven Sinne ein ausgeprägtes Nationalbewusstsein hat und nicht gedenkt, diese nationale Identität  mit einer wie auch immer definierten europäischen Identität zu tauschen. Diese Tatsache muss man als eine europäische Realität anerkennen, wenn man die Zusammenarbeit innerhalb der EU voranbringen will. Es muss also darum gehen, dass die Menschen in Europa an ihrem eigenen Leib spüren, was ihnen die europäische Zusammenarbeit bringt.
Und dabei ist natürlich auch wichtig, wie wir denn das Europa von morgen organisieren wollen. Aus Sicht des SSW hat ein neoliberalistisches Europa geringe Chancen, die Herzen und die Köpfe der Menschen zu erreichen. Wir wollen ein soziales Europa, in dem der Sozialstaatsgedanke ein tragender Gedanke der europäischen Zusammenarbeit bleibt.

Und wir wollen ein Europa, in den die verschiedenen Nationalitäten, Minderheiten und Kulturen gleichberechtigt und friedlich neben- und miteinander leben und gedeihen. Das ist die große Aufgabe, die wir in den nächsten Jahren zu bewältigen haben. Sie umzusetzen, wird ganz sicher nicht einfach sein.

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