Rede · 18.11.2010 Sanktionen gegen Hartz IV-Beziehende aussetzen!

Uns liegen zu diesem Tagesordnungspunkt ja eine ganze Reihe von Anträgen verschiedener Fraktionen vor, doch alle haben eines gemeinsam: Inhaltlich beziehen sie sich auf bestehende Probleme und mehr oder weniger gravierende Fehler im System Hartz IV. Der SSW hat seit der Einführung der Hartz IV–Gesetze nicht nur den Grundgedanken eines ausgewogenen „Förderns“ und „Forderns“ begrüßt, sondern auch immer deutlich gemacht, dass die Gesetzgebung stetig weiter entwickelt werden muss. Uns zeigt allein schon die Verdopplung der Hartz IV-Fälle vor den Sozialgerichten in den vergangenen Jahren, dass noch sehr vieles verbesserungswürdig ist. Für Schleswig-Holstein bestätigen die Berichte der Bürgerbeauftragten regelmäßig diesen Eindruck: Allein 1320 Eingaben, und damit weit mehr als ein Drittel aller bearbeiteten Fälle, gehen auf das SGB II zurück.

Die aktuelle Debatte um die Neuberechnung der Regelsätze macht besonders deutlich, wie drängend manche dieser Probleme wirklich sind: Von der Entwicklung der Regelsätze vor allem für Kinder und Jugendliche hängt ganz einfach deren umfassende Teilhabe an unserem gesellschaftlichen Leben ab. Und diese gebietet nicht zuletzt unser Sozialstaatsprinzip. Mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Berechnung der Regelsätze wird aus Sicht des SSW vor allem eins deutlich: Bleiben die Sätze auf dem bisherigen Niveau, kann eine umfassende Teilhabe am sozialen, kulturellen und politischen Leben nicht gewährleistet werden. Besonders der Blick auf die Situation von Kindern aus Hartz IV-Familien zeigt doch, dass es bei ihnen oftmals nicht einmal für eine ausgewogene Ernährung reicht. Nicht zuletzt die aktuellen Untersuchungen im Auftrag der Sozialverbände belegen dies eindrucksvoll.

Der Antrag der SPD fordert die Landesregierung unter anderem dazu auf, sich bei den Verhandlungen auf Bundesebene für ein transparentes Berechnungsverfahren und wirklich bedarfsorientierte Regelsätze einzusetzen. Dies entspricht früheren Forderungen des SSW, so dass wir dem voll und ganz zustimmen können. Für den Bereich der Bildung ist es besonders wichtig, schnell zu einem Verfahren zu kommen, das sich viel stärker an den tatsächlichen Bedürfnissen der jungen Menschen orientiert. Ich möchte ernsthaft bezweifeln, ob zum Beispiel die Bildungsbedarfe eines 7-14-Jährigen mit einem monatlichen Betrag von 1,16 Euro abgedeckt sind. Fest steht: Die aktuell eingeplanten finanziellen Mittel in diesem Bereich müssen dringend noch einmal auf den Prüfstand.

Hier sollten selbstverständlich Fachleute aus dem Jugend- und Bildungsbereich entscheiden, welche Leistungen zur Bildungsteilhabe wirklich nötig sind. Dies sollte allerdings nicht nur hier, sondern auch in anderen Fachgebieten der Fall sein. In diesem Punkt geben wir den Linken Recht, die in ihrem Antrag unter anderem fordern, Experten aus den betreffenden Bereichen in den Prozess der Neuberechnung einzubeziehen. Wir halten es aber auch für notwendig, dass die Experten dann auch in einem ausgewogenen Verhältnis repräsentiert sind. Denn nur wenn alle Interessen vertreten sind, ist der Prozess und letztlich auch das Ergebnis der Neuberechnung auch ausreichend legitimiert.

Auch wir halten das gesamte Verfahren, mit dem man zu den aktuellen Regelsätzen gekommen ist, für grundsätzlich unbefriedigend. Nicht zuletzt durch die aktuelle Stunde zur Neuberechnung der Regelsätze wurden auch hier im Parlament erhebliche Zweifel und eine Reihe von Missverständnissen deutlich. Vor allem zeigt die Debatte insgesamt, dass hier weder von einem transparenten noch von einem nachvollziehbaren Verfahren die Rede sein kann. Die Auffassung der Regierungsfraktionen, nach der die neuen Regelsätze ordnungsgemäß errechnet und dem Bedarf entsprechend sind, kann der SSW ganz einfach nicht folgen. Wir meinen, dass wir zum jetzigen Zeitpunkt weit davon entfernt sind, die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts umzusetzen.

Auch die Forderung der Grünen nach einer angemessenen Berücksichtigung von Mobilitätskosten halten wir daher für absolut berechtigt. Selbstverständlich setzt eine umfassende Teilhabe der Menschen wenigstens ein Mindestmaß an Mobilität voraus. Angebote im Freizeit-, Kultur- oder auch Bildungsbereich können nicht immer vor der Haustür vorgehalten werden. Die Befürchtung, dass die Kosten hierfür eben nicht realistisch veranschlagt werden, teilt auch der SSW. Dabei ist es doch völlig logisch, dass sich zu geringe Mittel in diesem Bereich in einem Flächenland wie Schleswig-Holstein besonders nachteilig auswirken. Leider verschärfen auch die Pläne der Landesregierung, die Zuschüsse zur Schülerbeförderung zu streichen, dieses Problem zusätzlich. Wir halten es deshalb für sehr wichtig, die bestehende Möglichkeit zu nutzen und die Regelsätze des SGB II und SGB XII um diesen Punkt zu ergänzen. Denn wir teilen die Auffassung der Grünen, nach der die Bildungschancen der Kinder im Land ganz einfach nicht vom Einkommen der Eltern abhängen dürfen.

Natürlich hat die Linke mit ihrer Forderung an die Landesregierung Recht, im Bundesrat gegen das Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen zu stimmen. Eine mögliche Klage gegen die vorgelegten Regelsätze sehen wir allerdings eher skeptisch. Es ist offensichtlich, dass es in diesem konkreten Fall Unstimmigkeiten im Verfahren zur Neuberechnung gab. Gegen die Überprüfung, und damit auch die Möglichkeiten einer Klage, haben wir hier nichts einzuwenden. Langfristig halten wir es allerdings für wenig hilfreich, gegen jedes Vorhaben der Bundesregierung zu klagen, nur weil man anderer Meinung ist.

Die bestehenden Probleme im Zusammenhang mit dem so genannten Sanktionsparagraphen 31 des SGB II sieht auch der SSW mit Sorge. Selbstverständlich sind auch wir nicht mit Leistungskürzungen einverstanden, die die Existenz des Betroffenen gefährden. Wir dürfen uns in diesem Punkt aber auch nichts vormachen: Das System Hartz IV mit seinem Prinzip des Forderns und Fördern kann ohne eine Sanktionsmöglichkeit kaum funktionieren. Dabei muss die Verhältnismäßigkeit der Kürzung natürlich das wichtigste Gebot sein.

Aus Sicht des SSW ist die Debatte um die Neuberechnung der Regelsätze und in der Folge auch eine Erhöhung dieser Leistungen absolut notwendig. Wir müssen uns aber darüber im Klaren sein, dass wir das tiefer liegende Problem so nicht lösen. Auch veränderte Regelsätze sind leider nicht viel mehr, als eine weitere Reaktion auf steigende Armutszahlen, auf prekäre Lebensverhältnisse und zunehmende soziale Ausgrenzung. Und leider sind es vor allem die Jüngsten in unserer Gesellschaft, die unter dieser verfehlten Politik zu leiden haben. Es ist deshalb schon oft gesagt worden, aber auch für den SSW möchte ich noch einmal klarstellen: Die Erhöhung der Regelleistungen als Folge des Urteils aus Karlsruhe ist die einzig richtige Konsequenz. Natürlich müssen wir hierbei auch die Anreize für die Arbeitsaufnahme und die Interessen der Geringverdienenden im Blick behalten und das Lohnabstandsgebot beachten. Eine wirklich gerechte und nach meiner Meinung auch zwingende Folgerung ist deshalb ein gesetzlicher Mindestlohn und eine konsequente Entlastung unterer und mittlerer Einkommen von Steuern und Abgaben.

Wer behauptet, hierfür würden ganz einfach die nötigen Mittel fehlen, sollte sich an die Logik und Argumentation zum Wachstumsbeschleunigungsgesetz erinnern. Mit dem Unterschied, dass Hartz IV-Empfänger mit ihren zusätzlichen finanziellen Mitteln auch wirklich zur Stärkung des Binnenmarktes beitragen würden, anstatt sie beispielsweise im Ausland zu investieren.

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