Rede · 15.12.2000 EU-Grundrechtecharta: Minderheitenschutz fehlt

Lassen sie mich gleich mit dem Ende anfangen: Wie bereits im Europaausschuss angekündigt, wird sich der SSW bei der Abstimmung zu diesem Tagesordnungspunkt der Stimme enthalten. Das tun wir nicht, weil wir nicht Stellung beziehen wollen. Wir sind aber der Meinung, dass ein zentraler Punkt fehlt. Weder in der Charta selbst noch in der Beschlussempfehlung des Europaausschusses sind Bestimmungen zum Schutz nationaler Minderheiten in Europa enthalten. Wir bedauern sehr, dass diese Forderung – die noch aus dem Ursprungsantrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen hervorging – auch aus der Beschlussvorlage des Europaausschusses herausgenommen worden ist.

Nun kann man vielleicht zurecht dagegen einwenden, dass alles dies sowieso Schnee von gestern sei: Die Grundrechtecharta ist beschlossene Sache und nach Nizza drängen sich nunmehr ganz andere Probleme auf. Das mag seine Richtigkeit haben. Wir wissen ja auch, dass dieser Tagesordnungspunkt eigentlich schon auf der Oktobersitzung hätte debattiert werden sollen, und da hieß es noch nicht „post-Nizza". Was heute passiert, könnte daher eher als eine „Evaluation" des Nizza-Prozesses umschrieben werden. - Bei einer Redezeit von fünf Minuten kein einfaches Unterfangen. - Ich möchte aber trotzdem diesen wesentlichen Punkt noch einmal aufgreifen, weil ich glaube, dass die Europäische Union nicht umhin kommen wird, früher oder später diesen Fehler zu heilen.

Anfang Oktober fand in Straßburg beim Europarat eine „Europäische Konferenz gegen Rassismus" statt. Prominentester deutscher Teilnehmer war Günter Grass, weil sowohl Bundesinnenminister Schily als auch Bundesjustizministerin Däubler-Gmelin kurzfristig absagten. Beide hatten sicherlich gute Gründe für ihre Absagen; dennoch stellt sich die Frage, ob dadurch nicht auch angedeutet wird, wie die wichtig die Konferenz auf Bundesebene genommen wurde. Auf dieser Konferenz wurde aber eine Resolution verabschiedet, die genau auf den Punkt brachte, warum es wichtig gewesen wäre, in die Grundrechtecharta auch explizit formulierte Bestimmungen zum Schutz von autochthonen Sprachgemeinschaften und nationalen Minderheiten in Europa aufzunehmen.

Die Sprachen- und Kulturvielfalt gehört zum europäischen Erbe und macht den kulturellen Reichtum unseres Kontinentes aus. Diese Vielfalt gilt es zu bewahren. Erinnert werden muss, dass sich etwa 14 % der Bevölkerung Europas aus Bürgern zusammensetzt, die nicht der offiziellen sprachlichen und kulturellen Gemeinschaft des jeweiligen Staatsvolkes angehören. Die Rechte auf das Erlernen, auf den freien und öffentlichen Gebrauch der eigenen Sprache sowie auf den Zugang zu den Medien und auf kulturelle Identitätsfindung müssen allen Bürgern Europas, sowohl individuell als auch kollektiv, zugestanden werden. Bis heute werden diese Rechte jedoch in ihren Ländern bzw. auf europäischer Ebene meist nur in unzureichender Weise beachtet. In einigen Mitgliedstaaten der EU wird das Gebot der Gleichbehandlung von Minderheiten regelmäßig verletzt.

Erst in den 90’er Jahren wurde von den internationalen Institutionen Europas das Bedürfnis nach politischen und rechtlich bindenden Standards zum Schutz von nationalen Minderheiten und Sprachgemeinschaften erkannt und in zaghaften Schritten umgesetzt. Die Bundesrepublik hat denn auch – wie andere Staaten in Europa - die Rahmenkonvention des Europarates zum Schutz nationaler Minderheiten und die Sprachencharta ratifiziert. Diese international anerkannten „Mindeststandards" sollten aber auch in die Verträge der Europäischen Union Eingang finden. Vermisst werden also Regelungen, die es den EU-Institutionen auferlegen, die Chancengleichheit von Minderheiten sicherzustellen. Dies ist nur zu erreichen, wenn allgemein akzeptiert wird, dass Menschenrechte allein nicht dazu geeignet sind Minderheitenrechte abzusichern. Dass dabei auch die Minderheitenregelung des deutsch-dänischen Grenzlandes und die schleswig-holsteinische Landesverfassung ins Spiel gebracht wurden, sei hier nur am Rande angemerkt.

Dass man beim Minderheitenschutz auch in Nizza nicht weitergekommen ist, ist besonders bedauerlich angesichts der Tatsache, dass Minderheitenpolitik vor dem Hintergrund der Osterweiterung der Europäischen Union eher noch an Bedeutung gewinnen wird. In den neuen Mitgliedsländern gibt es eine ganze Reihe ungelöster Minderheitenproblematiken, die zum Gegenstand des Aufnahmeprozesses gemacht worden sind. Nicht zuletzt deshalb ist der angesprochene Mangel der Grundrechtecharta ein Problem. Es kann im Grunde genommen nicht angehen, dass die Messlatte in Sachen Minderheitenschutz für die Beitrittsländer so hoch gehängt worden ist, wenn nicht die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union gewillt sind, mit gutem Beispiel voran zu gehen. Diese Chance ist leider vertan worden.

Zu der Regierungskonferenz in Nizza ist in der vergangenen Woche vieles – vielleicht schon alles – gesagt worden. Mit am treffendsten formulierte es nach Zeitungsberichten der Direktor des European Policy Center John Palmer, der gesagt haben soll, dass der Ablauf der Regierungskonferenz ganz gut illustriert, warum ein großes EU-Land keine guten Vertragsrevision hinbekommt. Die Schlussfolgerung müsse sein, dass es in Zukunft nicht mehr möglich sein wird, 30 Regierungschefs über ein verlängertes Wochenende in einen Raum einzusperren, in der Hoffnung, dass dadurch ein annehmbares Verhandlungsergebnis zustande kommen wird.

ür den SSW ist dabei die entscheidende Frage, ob eine Erweiterung mit den jetzigen Strukturen überhaupt möglich sein wird. Mit dem Ergebnis von Nizza werden viele Ungereimtheiten deutlich. Grundsätzlich bleibt es problematisch, dass mit immer mehr Mitgliedern die Strukturen immer undurchschaubarer, komplizierter und letztendlich undemokratischer werden. Das grundsätzliche Problem bleibt, dass die Institutionen der EU so verschlossen, so weit weg von dem Alltag der Menschen in Europa sind, dass der Mythenbildung dadurch Tür und Tor geöffnet wird. – Ein Beispiel: Wer meint, die Europäische Union sei ein Allheilmittel gegen Nationalismus und nationalen Egoismus, täte gut daran, sich die Äußerungen verschiedener Regierungschefs zu der Konferenz in Nizza zu Gemüte zu führen: Schuld waren immer die anderen.

Aus der Sicht des SSW ist es an der Zeit, andere Visionen in der europäischen Zusammenarbeit zu entwickeln. Dazu gehört die regionale Zusammenarbeit, wie wir sie aus dem Ostseeraum kennen. Dazu gehört auch der Gedanke, dass - in Anlehnung an die Erfahrungen mit dem Konvent bei den Ausarbeitung der Grundrechtecharta - die nationalen Parlamente stärker in den Planungsprozess der EU eingebunden werden sollten.

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