Rääde · 29.10.2021 Das Vergütungssystem für Geburten muss geändert werden

„Das Geburtsgeschehen ist keine Operation, sondern muss das werden, was es im besten Fall sein kann: ein gut vorbereitetes Willkommen.“

Christian Dirschauer  zu TOP 36 - Situation der Geburtshilfe in Schleswig-Holstein (Drs. 19/3263)

In der Vorbemerkung des Berichtes weist der Gesundheitsminister selbst darauf hin: die Geburtshilfe wurde als Problemfeld durch die Corona-Pandemie verdrängt. Darum möchte ich noch einmal nachdrücklich daran erinnern, dass Abstandsgebot und Zugangsbeschränkungen in den Kliniken zu teilweise traumatisierenden Geburten geführt haben. Zeitweise mussten nicht-deutschsprechende Gebärende ohne Dolmetscher allein und ohne jegliche für sie verständliche Infos ihre Kinder gebären. Jede einzelne Geburt ohne Unterstützung durch Freunde oder Familie ist meines Erachtens eine zu viel. Corona hat den Gebärenden sehr viel zugemutet. Ich finde, dass die Gesellschaft und auch wir in der Politik es den Gebärenden schuldig sind, diese Situation und diese Erfahrungen zumindest anzuerkennen. Einfach wieder zur Tagesordnung überzugehen, ist meines Erachtens zu wenig. 

Der Bericht gibt ansonsten einen guten Überblick über das Geschehen im Land und setzt sich mit den einzelnen Standorten auseinander. Angesichts der Datenfülle möchte ich mich auf drei Komplexe beschränken: Erstens. Boarding-Häuser. Schleswig-Holstein bietet den Schwangeren von den Inseln die Unterbringung zwei Wochen vor der Geburt an. Das ist ein sehr gutes Angebot. Die kostenlose Unterbringung sollte aber zukunftsfest gestaltet werden; unabhängig von der Haushaltslage des Landes. Ich fordere daher, dass die Boarding-Häuser wie in Husum und Flensburg auch noch in der Zukunft diesen Service anbieten können. 

Zweitens. Unterfinanzierung. Richtigerweise werden Risikopatientinnen oder Schwangere bei einer drohenden Frühgeburt in spezielle Zentren aufgenommen. Schleswig-Holstein bietet Level 4-Perinatalzentren landesweit an. Die Vorhaltekosten der Krankenhäuser für diese Art Notfallmedizin blendet die entsprechende Fallgruppe allerdings aus. Der ganze Betrieb ist darauf ausgerichtet, mehrere schwierige Geburten parallel gut zu versorgen. Wenn aber wochenlang keine einzige dieser Geburten geschehen, bleibt die Klinik praktisch auf Kosten für Material, Maschinenwartung und Personal sitzen. Das ist falsch und muss geändert werden. 

Womöglich ist die Unterfinanzierung auch der Grund für eine erhöhte Kaiserschnittrate in Deutschland, weil durch planbare Kaiserschnitte das Geburtsgeschehen entzerrt wird und weniger Schichten nötig werden. Dass ein Kaiserschnitt wegen der längeren Verweildauer im Krankenhaus und der höheren Wahrscheinlichkeit von Komplikationen allerdings teurer ist als eine Geburt ohne Kaiserschnitt, gehört auch zur Wahrheit; diese Kosten werden aber über andere DRG-Gruppen abgedeckt. Der reinste Irrsinn. Darum muss das Vergütungssystem geändert werden; nicht nur in Sachen Personalschlüssel für Hebammen. Der Geburtsmodus muss aus dem DRG-System gestrichen werden und durch eine ganzheitliche Betreuung von Gebärender und Kind ersetzt werden. Parallel dazu müssen Qualifikationsanforderungen, Weiterbildungsgebote und Qualitätssicherung für jedes Level festgelegt werden. 

Drittens. Die Situation der grenzüberschreitenden Geburtshilfe suchte ich im Bericht vergeblich. Ich meine dabei das Angebot an Gebärende aus Süddänemark. Wie steht es damit? Und wie ist es mit dem Personal: gibt es Kooperationen in Sachen Fort- und Ausbildung über die Grenze hinweg? Und wenn nein, warum nicht? Ein weiterer Nachbar Schleswig-Holsteins ist Niedersachsen. Die Helgoländerinnen nutzen die Klinik in Cuxhaven. Gibt es eine Vernetzung? Wie wird die Nachsorge geregelt? Und zum Schluss möchte ich über den großen Nachbar Hamburg ansprechen. Wie viele Gebärende im Hamburger Speckgürtel nutzen Hamburger Kliniken und Geburtshäuser? Und welche Auswirkungen hat das auf die Statistik? 

Die Tatsache, dass Geburtshilfe nicht über Grenzen hinweg gedacht und geplant wird, belegt in meinen Augen sehr eindrucksvoll, dass hier ein Systemwechsel dringend Not tut. Der Gesundheitsminister beklagt meines Erachtens völlig zu Recht, dass Angebote, die in der Regelversorgung nicht vorgesehen sind, keine Chance im derzeitigen Vergütungssystem haben. Mit ein bisschen mehr Hebammen und ein bisschen mehr Boarding ist es eben nicht getan. Die Karriere- und Aufstiegschancen in der Geburtshilfe hinken denen anderer Fachbereiche hinterher; die Belastung durch Schichten und Notfallgeschehen sowieso. Der Schritt in die akademische Hebammenausbildung ist nach drei Jahrzehnten der Debatte ein richtiger Schritt. Doch wie sieht es mit der Geburtshilfeausbildung des medizinischen Personals aus? Auch hier fehlt die vertiefende Auseinandersetzung im vorliegenden Bericht.
Das Geburtsgeschehen ist keine Operation, sondern muss das werden, was es im besten Fall sein kann: ein gut vorbereitetes Willkommen.

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