Speech · 11.12.2025 Neurodivergenzen bei Schülern mehr mitdenken!
„Maßnahmen im Sinne neurodivergenter Schülerinnen und Schüler sind Maßnahmen, die Allen zugutekommen. Mehr Lehrkräfte, mehr multiprofessionelle Teams, kleinere Klassen oder Lerngruppen. Es muss uns doch um eine möglichst individuelle Betrachtung jedes einzelnen Kindes gehen.“
Jette Waldinger-Thiering zu TOP 19 - Besserer Umgang mit Neurodivergenzen an Schulen (Drs. 20/3870)
Das Thema Neurodiversität oder Neurodivergenzen beschäftigt uns seit ein paar Jahren als Gesellschaft immer mehr und ich finde, das ist eine gute Entwicklung. Es ist gut, wenn wir uns mehr über die Vielfalt menschlicher Gehirne bewusstwerden und die damit verbundenen Unterschiede in der Wahrnehmung und dementsprechend im Denken und Verhalten. Das ist besonders wichtig, weil noch immer viele Eltern mit dem Gedanken Schwierigkeiten haben, ihre Kinder könnten eine Form von „Diagnose“ erhalten.
Dabei ist ja gerade der ganze Komplex um Neurodiversität davon geprägt, Unterschiede in der kognitiven Gehirnfunktion als natürliche Unterschiede anzuerkennen und nicht als Störung oder gar Krankheit.
Wir als SSW sehen es als sehr zielführend an, dass neurologische Unterschiede immer weniger als Defizite betrachtet werden, sondern vielmehr als einfach vorhanden, einfach da.
Es geht für uns um unterschiedliche Arten zu denken und die Welt wahrzunehmen, die von uns gesellschaftlich als anders wahrgenommen werden, weil sie nicht der Norm entsprechen.
Und dann sind wir an dem Punkt angelangt, an dem wir uns irgendwann fragen müssen: „Was ist eigentlich die Norm?“. Das bleibt in diesem Rahmen aber erstmal eine Frage der Wissenschaft.
Für uns, die wir in der Politik tätig sind, ist es vor allem wichtig darauf zu gucken, welche Schlüsse wir für die Bereiche, für die wir zuständig sind, aus den Erkenntnissen, die wir bereits haben, ziehen und da ist die Bildungspolitik völlig richtig die erste Anlaufstelle. Hier passiert bereits eine ganze Menge. Aber vor allem aus Sicht betroffener nicht genug.
Deswegen kann auch ich die Schlussfolgerung der Landesregierung in ihrem entsprechenden Bericht, es bestünde „aktuell kein Handlungsbedarf“ einfach wirklich nicht nachvollziehen.
Ich würde mich freuen, das kann ich jetzt schon einmal vorwegnehmen, wenn wir das Thema noch ein wenig im Ausschuss weiter behandeln könnten.
Denn ich würde im Falle einer Ausschussberatung gerne noch auf das Thema „Kita“ eingehen, denn wenn wir ein flächendeckendes Screening einführen wollen, sollten wir aus meiner Sicht hier beginnen. Wir müssen Kita endlich generell als die frühkindliche Bildung, die sie ist, mitdenken. Und wenn hier perspektivisch die flächendeckende 4 ½-jährigen-Untersuchung eingeführt werden soll, bietet es sich vielleicht an, hier auch schon an frühzeitige Diagnose- und Förderprozesse für neurodivergente Kinder zu denken.
Neurodivergente Schülerinnen und Schüler sind weit davon entfernt, per se nicht mit den fachlichen Inhalten in den Schulen zurechtzukommen. Im Gegenteil, einige von ihnen sind eher unterfordert. Wohl aber kann es bedeutsame Herausforderungen im Sozialverhalten geben. Und wenn die Probleme dort so groß sind, dass die betroffenen Kinder und Jugendlichen nicht mehr gern zur Schule gehen, gegebenenfalls zu Schulverweigerern werden, ist der Leistungsabfall fast schon vorprogrammiert.
Ein Punkt, der für mich noch sehr offen bleibt, ist der Punkt Arbeitsmarktintegration, weil er ja auch anspricht, was im Zweifel nach der Schulzeit passiert. Nicht nur in der Arbeit, sondern einfach im Leben einer erwachsenen Person. Im Supermarkt, in sozialen Zusammenhängen, auf Veranstaltungen. Neurodivergente Menschen leben in einer Gesellschaft, die vor allem auf neurotypisches Erleben ausgelegt ist. Und überall treffen sie auf gesellschaftliche Erwartungen. Das wird für viele Menschen immer eine Herausforderung bleiben.
Insgesamt würde ich aber sagen, wir als SSW sehen den Handlungsbedarf. Maßnahmen im Sinne neurodivergenter Schülerinnen und Schüler sind Maßnahmen, die Allen zugutekommen.
Mehr Lehrkräfte, mehr multiprofessionelle Teams, kleinere Klassen oder Lerngruppen. Es muss uns doch um eine möglichst individuelle Betrachtung jedes einzelnen Kindes gehen.
Ich finde, da können wir im Land noch ein paar große Schritte vorankommen.