Rääde · 24.09.1997 Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile

Der Kernpunkt dieses Berichts ist das Urteil des Oberlandesgerichts aus dem Jahr 1995 und seine Entstehungsgründe. Der erste Strafsenat des Oberlandesgerichtes in Schleswig hat ein Todesurteil nicht aufgehoben. Der ehemals Verurteilte war zwar nach der sogenannten Volksschädlingsverordnung verurteilt worden, das Urteil war gleichzeitig aber auch mit dem Vorliegen von Straftatbeständen nach dem Strafgesetzbuch begründet worden. Der Diebstahl von 62,5 Gramm Speck, einer Rolle Bindfaden, einem Radiergummi, einigen Stiften, einer Tafel Schokolade und zweier Kisten Zigarren aus einem zerbombten Haus kosteten den Täter das Leben.

Dieses Urteil ist dem ersten Strafsenat nicht vorzuwerfen. Es ist vielmehr auf die unzulängliche Formulierung des Bundes-Unrechtsbeseitigungsgesetzes zurückzuführen. Dieses Gesetz aus dem Jahre 1990 sieht vor, daß nur solche Urteile aufgehoben werden können, die auf nationalsozialistischen Rechtsauffassungen beruhen. Es schließt also solche Urteile von einer Aufhebung aus, die nicht ausschließlich aus NS-Gesetzgebung - wie der Volksschädlingsverordnung - heraus begründet wurden. In einem solchen Fall liegen Tatbestände vor, die auch nach heutiger Auffassung strafbar wären. Deshalb wird eine Aufhebung verwehrt.

Aus meiner Sicht ist es überaus problematisch, daß die heutige Bewertung von NS-Unrechtsurteilen auf den zugrundegelegten Delikten beruhen kann, den Kontext der Urteile, das NS-Justizwesen, aber außer Acht läßt. Es ist mittlerweile unumstritten, daß die Justiz auf die Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland sehr anpassungsfähig geantwortet hat. Staatsanwälte und Richter haben sich mehrheitlich den neuen Rechtsdoktrinen der NSDAP unterworfen. Die obersten Grundsätze nationalsozialistischer Rechtsauffassung lauteten „Recht ist was dem Volk nützt“ und daß „das Recht und der Wille des Führers (...) eins“ sind. Die Aufgabe der Gerichte definierte Roland Freisler, der spätere Präsident des Volksgerichtshofs, damals noch Staatssekretär im Reichsjustizministerium, so: „Der Richter soll in erster Linie die autoritativen Willensbekundungen des Führers und die im Parteiprogramm der NSDAP enthaltenen Grundforderungen als Ausdruck des gesunden Volksempfindens anschauen; tut er das, wird er nicht fehlgehen können.“ Der „Reichsführer“ Hans Frank schrieb in seinen Leitsätzen zum nationalsozialistischen Recht: Aufgabe des Richters sei es nicht, „einer über der Volksgemeinschaft stehenden Rechtsordnung zur Anwendung zu verhelfen oder allgemeine Wertvorstellungen durchzusetzen, vielmehr hat er die konkrete völkische Gemeinschaftsordnung zu wahren, Schädlinge auszumerzen, gemeinschaftswidriges Verhalten zu ahnden und Streit unter Gemeinschaftsmitgliedern zu schlichten.“
Diesem Rechtsverständnis haben sich die Juristen im Dritten Reich willfährig verschrieben, und in diesem Kontext sind ihre Urteile zu bewerten.

Noch schlimmer ist es, wenn man den Blick auf die Sondergerichte beschränkt. Hier stehen in erster Linie die Urteile des Sondergerichts Altona bzw. später des Sondergerichts Kiel im Zentrum. Die Sondergerichte waren ursprünglich ausschließlich für politische Verfahren konzipiert. Sie bekamen aber später einen wesentlich erweiterten Zuständigkeitsbereich. Sie zeichneten sich dadurch aus, daß im Rahmen ihrer Prozesse auf eine ganze Reihe demokratisch-rechtsstaatlicher Ansprüche der Angeklagten verzichtet wurde. Unter anderem war keine Beweiserhebung vorgesehen, und die Urteile waren nicht anfechtbar. Freisler hat 1939 die Sondergerichte als „innere Front“ bezeichnet, die den „Dolchstoß in den Rücken des Volkes“ verhindern sollten. Sie haben genau das Gegenteil getan, und deshalb finde ich es beschämend, daß von diesen Gerichten gefällte Urteile heute noch Bestand haben können. Ein Einziges ist schon zu viel.

Zu dieser Befangenheit der Justiz kommt hinzu, daß die Nationalsozialisten bewußt auf eine Änderung des Rechts der Weimarer Republik verzichteten. Die Willkürjustiz kodifizierte sehr überlegt kein eigenes Recht, um sich nicht zu binden. Die rechtsstaatliche Gesetzgebung wurde stattdessen um Nazigesetze wie das Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre oder die Volksschädlingsverordnung ergänzt. Diese ergaben zusammen mit einer ganzen Reihe ungeschriebener Regeln das, was Himmler als ein „neues Recht“, das „Lebensrecht des deutschen Volkes“ beschrieb. Nach den Leitsätzen von Hans Frank war „Grundlage der Auslegung aller Rechtsquellen (...) die nationalsozialistische Weltanschauung, wie sie insbesondere in dem Parteiprogramm und in den Äußerungen unseres Führers ihren Ausdruck findet.“
Um es mit den Worten des emigrierten Politologen Ernst Fraenkel zu sagen, die Nationalsozialisten etablierten einen „Dualismus vom Maßnahmen- und Normenstaat“. Äußerlich galten viele Rechtsnormen weiterhin - so unter anderem auch die Weimarer Verfassung - aber nur als Alibi, als Fassade für die unbeschränkten Maßnahmen der Führergewalt. 1941 stellte Fraenkel fest: „Der Maßnahmenstaat ergänzt und verdrängt nicht nur den Normenstaat, er bedient sich auch des Normenstaats, um seine politischen Zwecke rechtsstaatlich zu tarnen.“

Dieser besondere Charakter des Rechtes, diese perfide Verquickung von rechtsstaatlicher Gesetzgebung, Terror und Willkür verbietet in meinen Augen eine Herstellung von Kontinuitäten zwischen Urteilen der Sondergerichte einerseits und den Rechtsnormen der Weimarer Republik und der Bundesrepublik anderseits. Daß Diebstahl heute noch ein Straftatbestand ist, kann nicht die Aufrechterhaltung des Urteils eines Sondergerichts begründen.

Man kann darüber denken, was man will, daß die Täter von damals, die willfährigen Richter und Staatsanwälte, nahezu ausnahmslos ohne Bestrafung davonkamen und in die Nachkriegsjustiz integriert wurden. Man kam damals nicht ohne sie aus, und wir können es heute nicht ändern. Was wir aber sehr wohl leisten können ist die verspätete - häufig zu späte - Rehabilitation der Opfer dieses Un-Rechtswesens. Wenigstens in diesem Punkt muß der Gerechtigkeit genüge getan werden. Solange die Aufhebung von Unrechtsurteilen aber als „Wiedergutmachung nach dem Zufallsprinzip“ praktiziert wird, wie es in dem Bericht formuliert wird, kann aber von Gerechtigkeit keine Rede sein.

Ich begrüße, daß die Landesregierung auf diesem Gebiet aktiv bleibt. Gerade die SPD in Schleswig-Holstein hat vieles dazu beigetragen, daß die Geschichte der Unrechtsjustiz aufgearbeitet worden ist. Ich hoffe, daß die Landesregierung weiter Druck in Bonn macht, um das Unrechtsbeseitigungsgesetz zu ändern. Ich möchte allerdings noch anregen, daß man vielleicht über einen anderen Namen als „Gesetz zur Beseitigung nationalsozialistischer Urteile“ bzw. „Unrechtsbeseitigungsgesetz“ nachdenkt. Der Begriff Beseitigung des Unrechts ist ein makabrer Euphemismus angesichts der Tatsache, daß viele Verurteilte ermordet wurden. Ob nun Todesurteil oder nicht: dieses Gesetz kann niemals das Unrecht beseitigen oder wiedergutmachen, das die Verurteilten erlitten haben.

Es wäre schön, wenn die Prognose der Landesregierung in Erfüllung ginge, wonach eine Änderung des NS-Unrechsbereinigungsgesetzes noch in der laufenden Legislaturperiode des Bundestages verabschiedet werden könnte. Justizopfer und nahe Angehörige sollten noch erleben dürfen, daß ihnen endlich Gerechtigkeit widerfährt.

Die aktuelle Deserteursdebatte hat gezeigt, wie wenige Betroffene es noch selbst erleben können. Ich möchte ausdrücklich begrüßen, daß man sich in Bonn ENDLICH dazu durchgerungen hat, die Deserteure zu rehabilitieren. Das ist ein - wenn auch wahrlich viel zu später - Erfolg. Der gestrige Beschluß des Bundestags-Rechtsausschusses ist ein erster und sehr wichtiger Schritt, um die Geschichte derjeniger aufzuarbeiten, für die das Leiden nicht mit dem Kriegsende und der Befreiung Deutschlands ein Ende gefunden hat. Ich hoffe, daß wir diesen Weg gemeinsam weiter beschreiten können.

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