Rääde · 11.07.2007 Kinderschutzgesetz & Gesetz über den öffentlichen Gesundheitsdienst


Spektakuläre Schlagzeilen, nüchterne Daten und alltägliche Erfahrungen erinnern uns immer wieder daran: Manche Eltern schaffen es nicht allein, ihren Kindern Geborgenheit zu geben und die Sprösslinge zu fördern. Im schlimmsten Fall führt dieses zu schwerer Misshandlung. In noch viel mehr Fällen werden die Kleinsten aber auch „nur“ vernachlässigt, weil die Eltern der Aufgabe nicht gewachsen sind. Viel zu viele Kinder leiden stumm und fühlen sich von der Erwachsenwelt allein gelassen.

Gerade weil nicht alle Eltern in der Lage oder willens sind, ihren Kindern das zu geben, was sie brauchen, hat auch die Gesellschaft eine Verantwortung für ihre Kinder. Wenn die Eltern nicht klarkommen, muss die Gesellschaft für sie handeln. Die Tatsachen sprechen aber dafür, dass die bisherigen Hilfen und Eingriffsmöglichkeiten nicht ausreichen. Deshalb begrüßen wir, dass uns jetzt endlich der Entwurf für ein Kinderschutzgesetz vorliegt, den die Sozialministerin ja bereits im März angekündigt hatte.

Wer große Erwartungen gehegt hat, sieht sich allerdings enttäuscht. Vieles im neuen Kinderschutzgesetz der Ministerin ist einfach eine Aneinanderreihung von Bestehendem und von Selbstverständlichkeiten. Daraus spricht die erklärte Absicht der Ministerin, bestehende Hilfen und Angebote auch in Zeiten der Haushaltskonsolidierung  zu erhalten. Aber das ist natürlich zu wenig, gemessen an den Erwartungen, die bestehen – und auch seitens der Ministerin geweckt wurden.

Neue Hilfen sind nicht geplant. Durch eine bessere Vernetzung von Behörden, Ärzten, Einrichtungen und Verbänden soll aber eine effektive und zusammenhängendere Politik zum Schutz der Kinder erreicht werden. Dagegen kann niemand etwas einwenden.

Der erste Ansatz ist und bleibt die Vorbeugung. Eltern sollen darin unterstützt werden, ihre Sache richtig und gut zu machen. Die Information für Eltern wird gestärkt und die Bedeutung der Familienbildung und Familienberatung wird unterstrichen. Neben der Überforderung ist Unwissenheit und Informationsmangel immer noch ein wesentlicher Grund dafür, dass Kinder nicht gerecht behandelt werden. Allerdings glaube ich auch, dass diese Informationen mit Blick auf Problemfamilien besser durch mündliche Überlieferung im täglichen Leben – z. B. durch Familienhebammen – erfolgt, statt durch Broschüren. Denn damit werden vor allem diejenigen Eltern erreicht, die ohnehin ein Interesse daran haben, sich über Kinderpflege und Kindererziehung zu informieren.

Was aber machen, wenn das Kind schon buchstäblich am Rande des Brunnens steht, weil die Eltern nicht aufpassen? Zentrales Element der neuen Kinderschutzpolitik in allen Bundesländern ist die Etablierung eines Frühwarnsystems, das Problemfamilien rechtzeitig in den Fokus der Behörden bringt. Denn es gibt viele, denen Probleme auffallen: Geburtskliniken, Hebammen, Jugendhilfe, Gesundheitsämter, Kinder- und Jugendärzte, Beratungsstellen, Schulen, Polizei, Justiz und viele andere. Diese sollen sich in formalisierten Kinderschutz-Netzwerken und Kooperationskreisen austauschen und zusammenarbeiten, um gefährdeten Kindern frühzeitig beistehen zu können. Weil es gerade bei der Zusammenarbeit der verschiedenen Akteure bisher gehapert hat, sollen künftig die Jugendämter die Verantwortung für die Koordinierung und für das Handeln bei Kindeswohlgefährdung bekommen. Dies ist ein guter Ansatz. Außerdem sollen die vielen Beteiligten fortgebildet werden, damit Probleme erkannt und gemeinsam bearbeitet werden können. Auch das ist gut so.

Kinder werden in den ersten Lebensjahren weitgehend in der Familie betreut. Deshalb sind die Probleme von außen schwer zu erkennen, wenn die Familie nicht andere Hilfen in Anspruch nimmt. Aus diesem Grund laufen die meisten Pläne für Frühwarnsysteme in Deutschland darauf hinaus, die Früherkennungsuntersuchungen beim Kinderarzt zu nutzen. Die Erfahrungen zeigen, dass diese von gut 5 % der Kinder bzw. Eltern nicht in Anspruch genommen werden und es besteht die Vermutung, dass dieses gerade diejenigen sind, für die ein besonderes Risiko besteht. Deshalb haben die Grünen uns auch bereits vor anderthalb Jahren einen Entwurf zur Änderung des Gesundheitsdienstgesetzes vorgelegt, mit dem die Teilnahme an der „U7“ verbindlich gemacht werden sollte. Ich habe damals schon deutlich gemacht, dass dem SSW dieser Ansatz zu eng war. Die Begrenzung auf Zweijährige, die komplizierte Kostenregelung und die Konzentration auf Kontrolle durch Mediziner erschien uns zu wenig.

Mit ihrem Gesetzentwurf haben die Grünen aber die Grundlage für eine Diskussion geschaffen, an der alle Fraktionen sich intensiv beteiligt haben. Die gesundheitspolitischen Sprecher haben sich darauf verständigen können, dass verbindliche Gesundheitsuntersuchungen für alle Kinder aus gesundheitspolitischer Sicht Sinn machen. Wir waren uns schließlich darin einig, dass es um alle Früherkennungsuntersuchungen U1 bis U11 gehen muss, dass diese durch die niedergelassenen Kinderärzte durchgeführt werden müssen, dass die Teilnahme von den Gesundheitsämtern kontrolliert werden soll und dass es für die Eltern Konsequenzen haben muss, wenn sie dieser Pflicht nicht nachkommen. Diese langwierige Suche nach Gemeinsamkeiten und Kompromissen ist aber hinfällig geworden, seitdem der Entwurf der Ministerin für ein Kinderschutzgesetz vorliegt.

Dabei finde ich nicht, dass dem Sozialministeriums in diesem Punkt eine bessere Lösung gelungen ist. Die Landesregierung wählt denselben Ansatz wie das Saarland, das bereits eine entsprechende Regelung eingeführt hat. Dort berichten die Kinderärzte die Teilnahme an den Früherkennungsuntersuchungen an eine zentrale „Screeningstelle“, die dann die Daten mit denen von Meldebehörden abgleicht und so die Kinder ausfindig macht, die nicht teilgenommen haben. In Schleswig-Holstein werden die säumigen Eltern dann ein Schreiben von dieser weithin unbekannten „zentralen Stelle“ bekommen, die sie zur Teilnahme an der Früherkennung auffordert. Wer sein Kind dann immer noch nicht zum Kinderarzt bringt, schließt unfreiwillig Bekanntschaft mit dem örtlichen Jugendamt, ohne aber zur Gesundheitsuntersuchung verpflichtet werden zu können. Diese Lösung wirkt sehr bürokratisch und stellt den Kontrollaspekt zu stark in den Vordergrund. Außerdem wäre es sinnvoller gewesen, für den gesamten Verlauf die bestehenden Strukturen vor Ort zu nutzen. Die Gesundheits-, Sozial- und Jugendämter sind den Eltern bekannt und haben jetzt schon eine enge Zusammenarbeit und arbeiten oft unter einem Dach. Da liegt es eigentlich nahe, sich der schon vorhandenen Strukturen zu bedienen. Statt dessen schafft Frau Trauernicht etwas Neues und verursacht so noch mehr Bürokratie.

Aus gesundheitspolitischer Sicht halte ich eine verbindliche Teilnahme an den U-Untersuchungen für notwendig. Sie macht auch Sinn, weil der Kinderarzt unmittelbar die Eltern beraten kann, wenn er gesundheitliche Probleme und Risiken feststellt. Ich glaube allerdings nicht, dass verbindliche Vorsorgeuntersuchungen eine gute politische Antwort auf Kindesmisshandlung und -vernachlässigung ist. Es ist zumindest fragwürdig, ob es ausreicht, diese Aufgabe maßgeblich einem Kinderarzt zu überlassen, der das Kind ein paar Minuten im Rahmen der U-Untersuchungen sieht. Dabei werden nur jene Kinder auffallen, die körperlich misshandelt werden. Viele andere werden aber trotz schlechter Lebensbedingungen durchgehen. Außerdem sind die Abstände zwischen den Terminen von der U7 an so groß, dass ein rechtzeitiges Erkennen von Risiken kaum möglich ist. Unter welchen Bedingungen ein Kind aufwächst, sieht man letztlich nicht, indem man ihm kurz auf den Körper guckt, sondern indem man nachsieht, unter welchen Umständen es lebt und aufwächst. Dafür sind aber ganz andere Modelle besser geeignet.

Der SSW hat schon häufiger auf das dänische Vorbild verwiesen. Dort gibt es einen gesonderten Zweig der Krankenpflege – die so genannte Gesundheitspflege – der gerade diese Aufgabe erfüllt: Kinder und Familien in den ersten Lebensjahren zu begleiten, anzuleiten und bei Bedarf Förderung und Hilfe zu vermitteln. Der Besuch der Gesundheitspflegerin gehört zum Alltag für alle Schichten, obwohl kein Zwang besteht. Diese Hilfen haben den großen Vorteil, dass das Kind in seinem Lebensumfeld gesehen und über einen längeren Zeitraum begleitet wird. So lässt sich klarer erkennen, welche Defizite und welcher Förderbedarf bestehen. Die Akzeptanz der Beratung durch die Eltern ist groß und die Vermittlung weiterer Hilfen ist niedrigschwellig.  Ich ziehe so ein System vor, weil die Veränderungsbereitschaft der Eltern in einem solchen Zusammenhang wesentlich stärker gefördert wird.

Denn letztendlich kommen wir nicht umhin, dass der Staat nicht durch Vorsorgeuntersuchungen oder Eingriffe der Jugendhilfe die Defizite des Elternhauses ausgleichen kann. Es geht darum, die Familien in die Lage zu versetzen, selbst klarzukommen und Hilfsbedarf von außen frühzeitig zu erkennen. Das Gesundheitsthema ist nur ein Weg, um die Tür zum Elternhaus zu öffnen. Eben diese Verkoppelung der gesundheitlichen mit der sozialen Perspektive, dieser Ansatz der Förderung und des „Empowerment“ liegt ja auch dem „Schutzengel“-Konzept zugrunde, das im Rahmen des „Kinder- und Jugend-Aktionsplans Schleswig-Holstein“ landesweit ausgedehnt werden soll.  Während dieses aber ausdrücklich auf „sozial benachteiligte Familien“ beschränkt ist, richtet sich ein anderes bekanntes Beispiel, das ebenfalls vom dänischen Vorbild inspirierte „Dormagener Modell“, an alle Eltern. Wir meinen, dass eben dies das Ziel sein muss: an alle Eltern heranzutreten. Denn die klassischen Mittelschichteltern bringen ihre Kinder zwar zuverlässiger zu den U-Untersuchungen, aber das heißt doch nicht, dass es dort keine überforderten und hilflosen Eltern gibt.

Wenn es um den Schutz vor Misshandlung und Vernachlässigung geht, dann macht eine allgemeine aufsuchende Gesundheitsfürsorge durch Familienhebammen, Sozialarbeiter oder den öffentlichen Gesundheitsdienst am meisten Sinn. Eine Pflicht zu ärztlichen Früherkennungsuntersuchungen macht wiederum aus gesundheitpolitischer Sicht Sinn. Die Beratung in Gesundheitsfragen kann dazu beitragen, den Aspekt der sozialen Kontrolle in den Hintergrund zu drängen und so die Bereitschaft der Eltern zu Mitarbeit und Veränderung erhöhen. Denn letztlich vertraut man doch eher der Familienhebamme auf dem Sofa als dem Jugendamtsmitarbeiter vor der Haustür.

Aber egal wer sich jetzt um die Kinder kümmern soll, die bei U-Untersuchungen fehlen oder anderweitig  auffallen: Aufsuchende und nachsorgende soziale Dienste der Sozial-, Jugend- und Gesundheitsämter kosten Geld. Auch die Fortbildung der kommunalen Mitarbeiter, die Koordinierung von formalisierten Netzwerken und die sozialmedizinische Qualifikation der niedergelassenen Kinder- und Jugendärzte sind nicht zum Nulltarif zu haben. In dieser Hinsicht macht das Kinderschutzgesetz aber wenig Hoffnung. Es preist die Arbeit der bestehenden Institutionen, aber macht von vornherein klar, dass die Ausgaben nach Maßgabe des Haushaltes gestaltet werden. Das ist zwar eigentlich eine Selbstverständlichkeit macht aber auch deutlich, dass die Landesregierung keine Absichten hegt, die finanziellen Rahmenbedingungen für den Schutz der Kinder wesentlich zu verändern.

Trotzdem wird der Schleswig-Holsteinische Landtag mit dem Kinderschutzgesetz bundesweit Maßstäbe setzen, weil es anderswo ein solches oft noch nicht gibt. Allerdings hoffe ich nicht, dass das Verfahren in Verbindung mit diesem Gesetzentwurf Maßstäbe für den Landtag setzt. Denn es steht auch für eine schier endlose Kette von unerfreulichen Ereignissen. Die Fraktionen der Großen Koalition haben die Kolleginnen und Kollegen von den Grünen vor den Kopf gestoßen, weil eigentlich vereinbart war, dass wir ausgehend von dem Grünen Entwurf etwas Gemeinsames erarbeiten. Die SPD-Fraktion hat auch ihrem zuständigen Fraktionsmitglied vor den Kopf gestoßen, das gemeinsam mit den anderen Fraktionen konstruktiv an einer Lösung auf Grundlage des Gesundheitsdienstgesetzes gearbeitet hat. Die Sozialministerin und die Fraktionen von CDU und SPD haben die Kommunalverbände vor dem Kopf gestoßen. In Anbetracht der Vorgeschichte dieses Gesetzentwurfs glaubt wohl niemand daran, dass es im Auftrag der Kollegen Geerdts und Baasch geschrieben wurde. Durch die Einbringung des vom Sozialministerium erarbeiteten Gesetzes durch die Landtagsfraktionen wurde aber eine Verbandsanhörung des Ministeriums und damit auch die Beteiligung der Betroffenen umgangen. Und schließlich hat die CDU die SPD vor den Kopf gestoßen, als diese plötzlich öffentlich eine Kehrtwende bei den Kinderrechten in der Landesverfassung machte, ohne den Koalitionspartner zu informieren. Auch das gehört zu diesem Gesamtkomplex.

Das Verfahren um dieses Gesetz ist eine Sammlung von parlamentarischen Kopfverletzungen und sollte den Fraktionen der Großen Koalition zu denken geben. Ich lege es mal so aus, dass die großen Fraktionen angesichts der Großen Koalition etwas aus der Übung sind, wenn es um die parlamentarische Arbeit geht. Ich freue mich aber trotzdem auf die Ausschussberatung – in der Hoffnung, dass es in den weiteren Beratungen wieder etwas gesitteter und parlamentarischer zugehen wird.

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