Rääde · 14.08.1996 Wahlrecht ab 16 Jahre bei Kommunalwahlen

Um es gleich vorweg zu sagen: Unsere Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf wird wesentlich davon abhängen, wie die Debatte bis zur zweiten Lesung geführt werden wird.

Die SSW-Abgeordneten sehen das positive Potential, das in erweiterten Mitbestimmungsmöglichkeiten für Jugendliche liegt. Viele Jugendliche haben heute der Politik gegenüber ein Gefühl der Ohnmacht. Wir stehen vor der Aufgabe, das verlorengegangene Vertrauen zurückgewinnen zu müssen, damit nicht eines Tages die parlamentarische Demokratie als solche in Frage gestellt wird. Wir müssen mit anderen Worten ein fast 50 Jahre altes System an die Lebenswelt junger Menschen anpassen, um seinen Fortbestand zu sichern. Das Mitbestimmungsrecht ist einer von vielen Bausteinen, mit denen wir die Demokratie stärken und weiterentwickeln können.

Die gesellschaftspolitischen Ziele, die mit dieser Initiative verbunden sind, teilen wir also. Es kann gar kein Zweifel daran bestehen, daß Jugendliche erweiterte Möglichkeiten der Mitbestimmung haben sollen. Das Wahlrecht kann ein Teil dieser Mitbestimmungsmöglichkeiten sein. Viel wichtiger als das Wahlrecht ist es aber, Jugendlichen auch direkte Einflußmöglichkeiten zu gewähren. Alltagsdemokratie ist wichtiger als Wahltagsdemokratie. Eine Senkung des Wahlalters ist nur diskutabel, wenn die Mitbestimmung im Alltag entsprechend gefördert wird. Mitreden in der Schule, im Betrieb, bei den Freizeitmöglichkeiten und auch in der Politik wird für Jugendliche unendlich viel wichtiger sein als das Recht, Parteien zu wählen. Ohne diese direkten Einflußmöglichkeiten verkommt das bloße Wahlrecht für 16-Jährige zur parteitaktischen Kosmetik.

Wir sind nicht bereit, für so ein Windei unsere Bedenken über Bord zu werfen. Nur ein geschlossenes Konzept der Demokratisierung auf kommunaler Ebene kann die Widersprüchlichkeiten eines niedrigeren Kommunalwahlalters aufwiegen. Vor allem die Schaffung verschiedener Altersstufen für Kommunal-, Landtags- und Bundestagswahl erscheint uns problematisch. Sie darf auf keinen Fall dazu führen, daß kommunale Demokratie den Ruch von etwas Zweitrangigem erhält. So etwas läßt sich aber nur verhindern, wenn die Senkung des Wahlalters mit einer Jugendpolitik aus einem Guß verschmilzt. Die neue Kommunalverfassung stellt unserer Ansicht nach einen ersten Baustein dar, an den weitere Elemente einer jugendnahen Demokratie angefügt werden können.

Unsere letzten Zweifel an dem Sinn der vorliegenden Initiative sind also noch lange nicht ausgeräumt. Wir stellen allerdings fest, daß die meisten Argumente gegen die Senkung des Wahlalters milde gesprochen unsinnig sind.

Viele Jugendliche sagen selbst, sie hätten noch nicht den erforderlichen Durchblick, um eine so wichtige Wahl zu treffen. Da kann man nur erwidern: Haben es denn alle Erwachsenen? Erwachsene haben im Gegenteil selten die Reife, ihren eigenen Durchblick in Frage zu stellen. Ich kann nicht erkennen, daß der Sprung von 16 bis 18 Jahren die Reifung zum vielfach bemühten „mündigen Bürger“ mit sich bringt. Vielen Menschen bleibt diese Mündigkeit für immer fremd.

Auch die Argumentation, das Wahlalter müsse der Volljährigkeit oder der juristischen Geschäftsfähigkeit folgen, ist wenig überzeugend. Wer der Debatte gefolgt hat, wird wissen, daß es eine Unmenge von Altersgrenzen gibt, bei denen man Fahrräder kaufen, die Religion wählen, Jugendpersonalvertreter werden und viele andere spannende Sachen machen kann. Diese Flut von Beispielen hat gerade gezeigt, daß das 18. Lebensjahr eine vollkommen willkürliche Altersgrenze ist und wenig über die persönliche Reife aussagt.

Das ebenfalls vielfach vorgetragene Gegenargument, Jugendliche könnten sich doch einfach in politischen Parteien engagieren, wenn sie Einfluß haben wollen, ist schlichtweg Blödsinn. Parteimitgliedschaft und Wahlen sind zwei grundsätzlich verschiedene Bestandteile der parlamentarischen Demokratie. Außerdem sollten wir mittlerweile genug Selbstkritik besitzen, um einzugestehen, daß die Parteien weitgehend den Draht zu jungen Menschen verloren haben.

Genau dieser Punkt führt uns aber zum Kern der Sache. Wir müssen auch über die Rolle der Parteien und ihrer Politiker in der Demokratie sprechen. Jugendliche brauchen nicht die Parteien, um persönlich glücklich zu werden. Aber die Parteien brauchen die Jugendlichen, auch wenn es scheint, als fiele ihnen dies hauptsächlich vor den Wahlen ein.

Von diesem Gesetzgebungsverfahren erwarte ich, daß es sich selbstkritisch mit diesen Fragen auseinandersetzt. Dabei ist es völlig unerheblich, wie lange wir dafür brauchen. Auf keinen Fall sollten wir uns von der Tatsache leiten lassen, daß in zwei Jahren Kommunalwahlen sind.
Am Ende der Ausschußbehandlung muß eben doch mehr stehen als eine „kleine Möglichkeit“, den Wünschen Jugendlicher nach aktiver Teilnahme am politischen Geschehen entgegenzukommen, wie es in der Pressemitteilung der Grünen zum Gesetzentwurf formuliert wurde.
Wenn wir nicht gleichzeitig die Probleme in der Beziehung zwischen der Politik und Jugendlichen auf breiter Basis angehen, und wenn wir ihnen nicht auch direkteren Einfluß gewähren, dann werden wir am Ende mehr Schaden als Nutzen anrichten. Wenn wir nur das Signal geben „jetzt dürft ihr uns wählen“, dann wird nochmals der Eindruck bestärkt, daß die Parteien in erster Linie an sich selbst denken.

Die Parteien sind nicht die Demokratie. Rationale parlamentarische Steuerung und Wahlrecht sind nur ein instrumenteller Teilbereich demokratischen Zusammenlebens. Sie sind das Flaggschiff eines demokratischen Staates, aber ohne Ergänzung in anderen Lebensbereichen - im Alltag - verkümmert die Demokratie. Die strikte Trennung zwischen demokratischer Staatsform und den übrigen Bereichen, wird auf Dauer junge Menschen mit ihrem neuen Politikverständnis nicht überzeugen können.

Mehr Politik für Jugendliche (ich rede nicht von Lippenbekenntnissen!) und Demokratisierung müssen die treuen Begleiter einer Wahlrechtsreform sein. Unmittelbare Mitbestimmung in der Politik, in den Schulen und Betrieben, das sind die Themen, über die ich gerne diskutieren möchte. Sollten wir im Ausschuß nur schmalspurig das Wahlrecht diskutieren, dann wird dieses Thema wirklich nie mehr, als die Kolleginnen und Kollegen von CDU- und FDP beklagen: Aktionismus, Populismus und primitive Wahltaktik. Spätestens bei den Haushaltsberatungen für 1997 werden wir aber sehen, wie ernst es die Kolleginnen und Kollegen mit der Jugendpolitik meinen.

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