Speech · 16.10.2025 Die Menschen müssen im Zentrum stehen

„Wenn unser Anspruch eine echte, qualitative Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe ist, dann brauchen wir zwingend auch eine fachliche und vor allem sehr differenzierte Perspektive. Neben den Betroffenen selbst, müssen wir weitere Expertinnen und Experten beteiligen, die nicht nur mit der Kostenbrille draufschauen, sondern auch die Qualität der Leistungen in den Blick nehmen.“

Christian Dirschauer zu TOP 6+20 - Situation der Eingliederungshilfe in Schleswig-Holstein und Bericht zu den Auswirkungen der Kommunalisierung der Eingliederungshilfe nach dem schleswig-holsteinischen Gesetz zur Ausführung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (Drs. 20/3033, 20/3564 + 20/3653)

Egal, ob es um den größeren Rahmen aus UN-BRK und BTHG oder um die praktische Umsetzung von Inklusion und die konkrete Teilhabe beispielsweise durch ein angemessenes Blindengeld geht: Die verschiedenen Aspekte der Politik für Menschen mit Behinderungen werden von uns aus gutem Grund sehr regelmäßig bewegt. Denn zum einen ist es richtig, dass Inklusion ein Prozess ist, den wir nie einfach abhaken können. Und zum anderen haben wir uns als Politik und Gesellschaft auf Ziele und gesetzliche Grundlagen verständigt, die ein völlig selbstverständliches Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderung ermöglichen sollen. Und wenn wir ehrlich sind, dann liegt da in nahezu allen Bereichen noch sehr viel Arbeit vor uns.

Ich denke wir müssen nicht darüber diskutieren, wenn ich feststelle, dass Menschen mit Behinderungen weder mit Blick auf Kita, Schule oder Arbeitsmarkt die gleichen Chancen haben, wie Menschen ohne besondere Bedarfe. Das gleiche gilt für die Gesundheitsversorgung oder Themen wie dem Wohnen, bei Fragen der Mobilität oder der selbstbestimmten Teilhabe an vielen weiteren Bereichen unseres Lebens. Aber zur Wahrheit gehört durchaus auch, dass Deutschland in Sachen Inklusion in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten erhebliche Fortschritte gemacht hat. Und allein die vielen Zahlen, die in den Antworten auf die Große Anfrage der FDP aufgeführt sind, zeigen uns, dass zumindest das finanzielle Engagement in diesem Bereich steigt. Und das durchaus auch auf Landesebene. Das will ich gerne anerkennen.

Wir alle wissen, dass der Bereich der Eingliederungshilfe ein wichtiger und berechtigter, aber eben auch großer Ausgabenposten im Landeshaushalt ist. Sie dient als wesentliche Leistung im Rahmen des SGB 9 dem Ziel, Menschen mit Behinderungen oder von einer Behinderung bedrohten Betroffenen, ein selbstbestimmtes und gleichberechtigtes Leben zu ermöglichen. Wir vom SSW verbinden hiermit die klare Erwartung, dass möglichst viel von den hier eingesetzten Mitteln im Alltag der Betroffenen ankommen muss. Und gerade, weil die Leistungen der Eingliederungshilfe die Folgen einer Behinderung mildern oder sie sogar abwenden sollen und noch dazu das Ziel haben, Einschränkungen beim Zugang zum Arbeitsmarkt zu verringern und Pflegebedürftigkeit zu vermeiden, ist es so wichtig, hier sehr genau hinzuschauen.

Vor diesem Hintergrund, und nicht zuletzt aufgrund so mancher, wenig ergiebiger Kleiner Anfrage zum Themenfeld, bin ich der FDP für die vorliegenden Initiativen sehr dankbar. Vieles, was aufgrund des Charakters als pflichtige Selbstverwaltungsaufgabe der Kreise und kreisfreien Städte nicht in einer 2-Wochen-Frist durch die Landesregierung beantwortbar ist, liegt uns nun vor. Wenn auch mitunter noch lückenhaft, geben die Antworten unter anderem Aufschluss über die Gesamtzahl der Leistungsberechtigten und die Zahl der Anträge auf Leistungen für Rehabilitation und Teilhabe. Aber auch die entsprechende Bearbeitungsdauer, die Entwicklung der Kosten und Ausgaben und die verschiedenen Herausforderungen wie etwa den Fachkräftemangel werden thematisiert. Ich denke, diese Datenbasis ist gerade aus Sicht der Betroffenen und vor dem Hintergrund der Diskussion über die Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe wichtig und wertvoll.

Diese Plenardebatte ist natürlich nicht der Rahmen, um in die Details der Beantwortung zu gehen. Aber mit Blick auf die Ergebnisse und so manche vorangegangene Diskussion zum Thema ist mir eins wichtig, zu betonen: Die Kostensteigerungen, die auch in der vorliegenden Großen Anfrage sehr deutlich herausgestellt werden, sind weder durch eine Ausweitung der Leistungen noch durch eine besonders großzügige Bewilligungspraxis entstanden. Sie sind vielmehr durch allgemeine Kostensteigerungen erklärbar, die wir auch in viele anderen Bereichen erleben. Also beispielsweise durch steigende Löhne und Gehälter oder Mieten, oder durch Preissteigerungen infolge der inflationären Entwicklung. Wer hier also nur mit Kostenbrille und Rotstift draufschaut, sollte sich dringend ein umfassenderes Bild machen und mal mit den Leistungsberechtigten sprechen. Viele Menschen mit Behinderungen spüren schon lange, dass an ihren berechtigten Ansprüchen gespart wird. Und viele haben schlichtweg Angst vor der Zukunft, wenn zum Beispiel heute schon nur noch die Hälfte der Zuschüsse zu Ihren Taxifahrten bewilligt wird, weil Sparzwang herrscht.

Ich will nicht missverstanden werden: Natürlich ist Kosteneffizienz und Transparenz über die Entwicklung der Ausgaben auch in der Eingliederungshilfe wichtig. Aber mit der UN-Konvention und vor allem auch dem Bundesteilhabegesetz sind wichtige Leitplanken benannt. Es ist zwingend notwendig und zumindest aus Sicht des SSW auch völlig unstrittig, vom Menschen mit Behinderung aus zu denken und die jeweilige Person mit ihrem individuellen Bedarf ins Zentrum zu stellen. Menschen mit besonderen Bedarfen sind genauso vielfältig, wie Menschen ohne Behinderungen. Und deshalb ist und bleibt für uns völlig klar, dass auch die jeweiligen Leistungen oder konkreten Maßnahmen zu ihrer Unterstützung möglichst individuell und passgenau sein müssen. Es ist gut und richtig, dass Betroffene vom Grundsatz her keine Sach- oder Dienstleistungen, sondern Geldleistungen erhalten, um notwendige Unterstützungen selbstbestimmt zu organisieren und einzukaufen. Nach meinem Dafürhalten sollen sie noch viel stärker entscheiden, wer, wann und wie diese Leistungen erbringt.

Keine Frage: Wenn es darum geht, Inklusion sicherzustellen und Selbstbestimmung und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen zu fördern, dann gibt es auch bei uns im Land deutliche Fortschritte. Mit dem Fonds für Barrierefreiheit oder den entsprechenden Landesaktionsplänen zur Umsetzung der UN-BRK sind auch in der Großen Anfrage gute Maßnahmen benannt. Gleichzeitig wird hier aber auch deutlich, dass Inklusion und Teilhabe von Menschen mit Handicap noch immer sehr unterschiedlich gelebt werden. Bei weit über 30.000 Leistungsberechtigten in der Eingliederungshilfe und mit Blick auf unser Flächenland mag das vielleicht auch naheliegen. Aber es ist keine Schwarzmalerei, sondern schlicht die Realität, dass Betroffene in manchen Bereichen noch immer nach Postleitzahl versorgt werden. Eine Art Flickenteppich ist aber völlig inakzeptabel. Wir reden hier über ein Menschenrecht. Und dieses muss natürlich für alle Menschen mit Behinderung gleichermaßen gelten und durchgesetzt werden.  

Umfassende Inklusion und Teilhabe erreichen wir nicht von jetzt auf gleich. Allen ist klar, dass wir uns diesen Zielen nur in einem langfristigen Prozess nähern können. Mir ist besonders wichtig, dass Menschen mit Behinderungen in diesem Prozess noch viel stärker als Expertinnen und Experten in eigener Sache beteiligt werden. Hier gibt es noch deutlich Luft nach oben. Auch das System der Eingliederungshilfe muss weiterentwickelt werden. Hier muss allen bewusst sein, dass wir nicht über eine Art Gnadenrecht sprechen. Maßgeblich ist der Mensch mit Behinderung mit seinen individuellen Bedarfen. Die Betroffenen müssen im Zentrum stehen. Ziel muss es sein, ihre Rechte der weiter zu stärken. Und wenn unser Anspruch eine echte, qualitative Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe ist, dann brauchen wir zwingend auch eine fachliche und vor allem sehr differenzierte Perspektive. Neben den Betroffenen selbst, müssen wir weitere Expertinnen und Experten beteiligen, die nicht nur mit der Kostenbrille draufschauen, sondern auch die Qualität der Leistungen in den Blick nehmen. 

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