Tale · 20.06.2003 Europäischer Verfassungskonvent

Die EU braucht eine Reform. Das ist schon lange klar. Zum einen müssen die Mängel der alten EU der 15 ausgeräumt werden. Zum anderen muss der Rahmen an die neue EU der 25 an-gepasst werden. Schon der erste Punkt ist angesichts der über Jahrzehnte verfestigten Struktu-ren in Brüssel eine Herkulesaufgabe. Den meisten Bürgerinnen und Bürgern verbleibt immer noch verborgen, was in der europäischen Politik geschieht. Kaum jemand kann sehen, wie die Entscheidungen gefällt werden und wovon sie beeinflusst werden.
Leider hat der Konvent in dieser Hinsicht nur bedingt Erfolge vorzuweisen. Der Konvent sollte die Fenster aufreißen, um Licht und Durchzug in das europäische Haus hereinzulassen. Letztlich hat er aber den Eindruck vermittelt, dass die Fenster zwar geöffnet aber gleichzeitig die Gardinen zugezogen wurden. Der Konvent war für die Normalbürgerin und den Normal-bürger nicht durchschaubar und seine öffentliches Bild wurde von einer Präsidentschaft ge-prägt, die offensichtlich die Diskussion, die Inhalte und die Empfehlungen stark dominiert hat. Das Ziel der Transparenz europäischer Politik wurde sowohl bei der Entscheidungsfin-dung wie bei den Beschlussvorschlägen des Konvents verfehlt.
Es ist nicht ganz einfach, sich einen Überblick darüber zu verschaffen, was nun beschlossen wurde, was doch im letzten Moment gekippt wurde und was erst später entschieden wird. Zu meiner Ehrenrettung kann ich aber sagen, dass selbst der Luxemburger Regierungschef Jean-Claude Juncker dem „Spiegel“ berichtet, er habe in Telefonaten mit seinen europäischen Kol-legen vergebens darum gekämpft, herauszubekommen, was nun eigentlich in Thessaloniki Sache ist. Deshalb komme ich heute nur kurz auf einige Schlaglichter zu sprechen, die in der öffentlichen Debatte der vergangenen Tage und Wochen eine herausragende Rolle gespielt haben.
Jenseits aller Kritik an dem Kompromiss lässt sich feststellen, dass die Institutionen auf europäischer Ebene gestärkt werden. Es soll einen neuen Präsidenten des Europäischen Rates und einen Außenminister geben. Sie sind gemeinsam mit dem Kommissionspräsidenten für die Außenpolitik zuständig, was – sieht man von den daraus entstehenden Koordinationsprob-lemen ab - diesen Bereich auf europäischer Ebene aufwertet. Das Europarlament erhält die volle Mitentscheidung im Bereich der Gesetzgebung und des Haushalts und wählt zukünftig den Kommissionspräsidenten. Zukünftig gibt es bis zu 27 Kommissare aber nur 15 haben Stimmrecht und Ressorts. Damit werden die kleinen Länder geschwächt.
Auch die Reform der Entscheidungsabläufe stärkt die europäische Ebene. Die Gesetzgebung wird vereinfacht. Zukünftig ist das Mitentscheidungsverfahren von Rat, Parlament und Kommission die Regel. Die Einführung von Mehrheitsentscheidungen im Europäischen Rat er-leichtert die Entscheidungsfindung. Die Regelung einer doppelten Mehrheit [Staatenmehrheit und 3/5 der Bevölkerung] stärkt aber die bevölkerungsreichen Länder auf Kosten der Kleinen.
Die Kompetenzabgrenzung zwischen Staaten und EU wird aus unserer Sicht nicht bedingungslos besser - aber zumindest anders strukturiert. Eine klare Aufgabenteilung, wie wir sie uns seit langem wünschen, findet nicht statt. Andererseits verfügt die EU aber zukünftig nur über Zuständigkeiten, die ihr explizit übertragen wurden; der Rest obliegt den Mitgliedsstaa-ten. Die Subsidiaritätsprüfung soll in Zukunft auch die regionale und lokale Ebene umfassen, das begrüßen wir. Weitere Kriterien für die Prüfung konnten aber leider nicht verankert wer-den. In einigen Bereichen wird die Zuständigkeit der EU ausgeweitet. So werden zum Bei-spiel in der Innen- und Justizpolitik zusätzliche Kompetenzen und Instrumente geschaffen. Wir sehen mit großer Sorge, dass die Kompetenzen von Europol und Eurojust ausgeweitet werden sollen und dass die Rechtsgrundlage für die Harmonisierung strafrechtlicher Normen weiter geht. Das Vetorecht bei Kultur und Bildung wird aufgehoben, es gilt aber weiterhin ein Harmonisierungsverbot für die entsprechenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften. Auch hier möchte ich nicht eine gewisse Skepsis verhehlen.
Der größte Streitpunkt wird noch die Außen- und Sicherheitspolitik sein, für die der Konvent bislang kein abschließendes Votum vorgelegt hat. Die Staats- und Regierungschefs bera-ten heute offensichtlich nur auf der Grundlage eines Entwurfs des Präsidiums - was nochmals die zweifelhafte Dominanz der Spitzenleute um Giscard D’Estaing in diesem Gremium be-legt. Der Streit um den Irak-Krieg hat verdeutlicht, dass wir eine gemeinsam abgestimmte Außen- und Sicherheitspolitik brauchen. Anderseits hat er aber auch deutlich gemacht, dass es Grenzen der Gemeinsamkeiten gibt. Deshalb bin ich sehr skeptisch, ob es wirklich sinnvoll wäre, hier durch überqualifizierte Mehrheitsentscheidungen eine einheitliche europäische Li-nie zu erzwingen. Solche Mehrheitsbeschlüsse könnten auch zur großen Spaltung führen.
Die neuen Mehrheitsbeschlüsse werden ergänzt durch die Ermöglichung eines sogenannten „Kerneuropas“ - einer EU der verschiedenen Geschwindigkeiten, bei der einige Länder sich entschließen können, gemeinsam weiter zu gehen als die Gesamtunion. Dieses Instrument ist ein zweischneidiges Schwert. Einerseits erlaubt es Ländern, nicht der Mehrheit zu folgen und eigene Wege zu gehen, was wir befürworten. Andererseits ist es nicht ungefährlich. Denn wenn sich einige von der Gruppen entfernen, dann bleibt den anderen später nur, sich dem konkret gewählten Weg der vorpreschenden Länder bedingungslos anzuschließen, im Abseits zu bleiben oder aus der EU auszutreten (auch diese neue Möglichkeit soll es immerhin ge-ben). Schon in Verbindung mit dem Konvent hat sich wieder beispielhaft gezeigt, dass die Vertreter großer Länder nicht unbedingt von sich aus den Weg des Kompromisses mit den Kleinen suchen. Wenn der Einigungszwang entfällt, dann könnte das zu einer Spaltung füh-ren, statt zu einem Ausleben von Gemeinsamkeiten.
Wir begrüßen grundsätzlich die Übernahme der Grundrechtecharta in die Verfassung, weil so verbindliche, einklagbare Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger gegenüber der EU geschaffen werden. Eine Frage, die uns natürlich besonders am Herzen gelegen hat ist die Absicherung der Rechte und der Vertretung der Minderheiten auf europäischer Ebene. Der Land-tag hat in einer Resolution an das Europäische Konvent und die Bundesregierung gefordert, den Schutz und die Förderung von Minderheiten in der EU-Verfassung explizit zu berück-sichtigen. Weder das KonventsPräsidium noch die Bundesregierung haben diesen Wunsch berücksichtigt. Im Entwurf steht jetzt lediglich, dass die EU die sprachliche Vielfalt ‚wahrt’. Das ist viel zu wenig. Wir brauchen einen eigenen Artikel, der Schutz und Förderung von Minderheiten garantiert. Es ist sehr enttäuschend, dass die Bundesregierung - mit Blick auf Frankreich, Spanien und Griechenland - davon abgesehen hat, einen eigenen Vorschlag ein-zubringen, obwohl der Bundeskanzler und der Außenminister den Minderheiten entsprechen-de Zusagen gemacht haben. Die Minderheitenpolitik der EU ist aber unglaubwürdig, wenn sie einerseits von den Beitrittsländern die strenge Einhaltung des Minderheitenschutzes fordert, während einige „alte“ EU-Staaten weiterhin die Existenz nationaler Minderheiten im eigenen Land leugnen und eine gemeinsame Minderheitenpolitik blockieren dürfen.
Der SSW hat auch Vorschläge von Konventsmitgliedern unterstützt, wenigstens einen Beirat für nationale und ethnische Minderheiten in der Europäischen Union einzurichten. Das wäre ein gutes Signal zu einem Zeitpunkt gewesen, an dem Länder mit einer Vielzahl von Minder-heiten in die EU aufgenommen werden. Aber auch dieser Vorschlag bekam nie eine realisti-sche Chance.
Bei einer europäischen Verfassung geht es nicht darum, etwas zu schaffen, das über den nationalen Verfassungen steht. Es geht um Spielregeln für die Zusammenarbeit auf europäischer Ebene. Das begrüßen wir. Ich warne allerdings vor überzogenen Erwartungen. Denn letztlich geht es nicht um einen Selbstzweck, sondern um die Menschen in Europa. Wer es ernst meint damit, dass die Bevölkerung sich mehr mit der Demokratie auf Europaebene identifizieren soll, der muss nicht nur Entscheidungswege transparent machen. Er muss die Menschen auch mitreden lassen. Und das bedeutet eben nicht nur die Ermöglichung von Bürgerbegehren auf Europäische Ebene, wie sie der Konvent anstrebt. Das bedeutet auch, dass die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland endlich die Chance bekommen müssen, über einen so wichtigen Meilenstein der Europäischen Integration direkt mit zu entscheiden. So lange ihnen diese Möglichkeit verwehr wird, darf es niemanden verwundern, dass das ehrgeizige „Projekt Eu-ropa“ der Politiker nicht bei den Menschen ankommt.

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