Speech · 17.06.2020 Unsere Demokratie kann auch die Verschwörungserzählungen auf sogenannten Hygienedemos ertragen

Wer Verschwörungserzählungen hört, egal ob im privaten Gespräch oder in einer Familien-WhatsApp-Gruppe, sollte das ernst nehmen und ansprechen. Nicht ignorieren, sondern dagegen an argumentieren.

Jette Waldinger-Thiering zu TOP 43 u. 54 - Hygienedemonstrationen (Drs. 19/2219 u. 2239)

Corona hat das Leben von uns allen auf den Kopf gestellt. Viele Menschen hatten und haben Existenzängste, weil ihr Umsatz eingebrochen ist oder weil sie in Kurzarbeit geschickt wurden. Viele Eltern sind an den Rand der Belastbarkeit, weil sie ohne Unterstützung durch Schule und Großeltern Kinder und Homeschooling stemmen müssen. Angehörige haben seit Wochen nur per Telefon Kontakt zu Freund*innen und Verwandten, die im Heim leben. 
Alle diese Stimmen hatten es schwer, gehört zu werden.
Anders dagegen die Teilnehmer*innen der sogenannten Hygienedemos. Auf diese richteten sich gefühlt alle Kameras und Mikrofone. Ich hätte mir von den Medien mehr Fingerspitzengefühl und Abstand gewünscht. Statt dessen bekamen sehr kleine Gruppen ein unverhältnismäßig großes Echo, das ihnen immer mehr Demonstrant*innen zuspülte. In normalen Zeiten wäre die Handvoll Menschen nur eine Randnotiz. Einige mehr oder weniger bekannte Menschen bekamen aber wegen der Berichterstattung einen so großen Zulauf, dass ihre Telegram-Gruppen inzwischen tausende neue Follower haben. Im Nachhinein betrachtet war die Art der Berichterstattung wohl ein großer Fehler.
Wir haben aber dazu gelernt. Darum warnt der Antrag der SPD-Fraktion auch vor Verschwörungserzählungen und nicht vor Verschwörungstheorien, denn das halbgare Gebräu aus verdrehten Fakten und wirrer Paranoia hat so gar nichts Systematisches oder Durchdachtes an sich, das den Namen Theorie verdient hätte. 
Es gibt sie schon lange: die Menschen, die die Medizin als Schulmedizin abqualifizieren und sich stattdessen an Heilerinnen und Heiler wenden. Menschen, die Wolken als Chemtrails interpretieren oder lieber obskuren Quellen vertrauen als seriöser Berichterstattung. Menschen, die  den ersten Flug zum Mond als Hollywoodkulisse enthüllen. Diese Wichtigtuer tummeln sich schon seit Jahren in den sozialen Medien und erleben diverse Konjunkturen. Weltbild und Gesinnung verfestigten sich im Laufe der Jahre.  
Genau vor diesem Hintergrund bin ich besorgt, dass der vorliegende Antrag den Fokus fast ausschließlich auf Bildungsaspekte legt. 
An dieser Stelle möchte ich deutlich machen, dass in Schule und Erwachsenenbildung durchaus Defizite im Bereich der politischen Bildung zu erkennen sind; die Inhalte aber im Großen und Ganzen gut funktionieren. Die Qualifikation der Lehrkräfte wurde in den letzten Jahren systematisch verbessert und die Materialien sind auf dem neuesten Stand. Gedenkstätten und Museen wurden modernisiert und richten sich mit vielfältigen Angeboten an die Schleswig-Holsteiner*innen. Inhalte und Fakten sind leicht verfügbar und oft nur einen Klick entfernt. Die Anstrengungen haben sich also gelohnt. Jetzt eine Kampagne für Politische Bildung zu fahren, hieße nur, mehr von dem gleichen anzubieten. 
Die politische Bildungslandschaft in unserem Land ist nicht verantwortlich für die Entgleisungen auf den so genannten Hygienedemos. Wer sich als Impfgegner einen Judenstern anheftet, weiß nämlich ganz genau, was diese Provokation bedeutet. So einen Demonstranten muss man nicht aufklären, sondern bestrafen.
Darauf zielt auch der Antrag, der im dritten Punkt zur Durchsetzung des bestehenden Rechts aufruft. Dazu benötige ich aber keinen Antrag. Das ist bei Polizei und Strafverfolgungsbehörden selbstverständlich.
Bei aller Kritik an dem Antrag sehe ich durchaus Handlungsbedarf, aber eben bei uns allen. Wer Verschwörungserzählungen hört, egal ob im privaten Gespräch oder in einer Familien-WhatsApp-Gruppe, sollte das ernst nehmen und ansprechen. Nicht ignorieren, sondern dagegen an argumentieren. Nicht auf andere die Verantwortung verlagern, wie Schulen oder Bildungseinrichtungen, sondern selbst dafür Sorge tragen, dass sich Fakten durchsetzen.  Nur so stoppen wir langfristig und nachhaltig die Ausbreitung von Verschwörungserzählungen.

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