Rede · 15.12.2004 PISA II und Bildungsqualität im Schulwesen

In einer großen Regionalzeitung hieß es vor ein paar Tagen unter der Überschrift „Pisa und der Weihnachtsmann“: Der Pisa- Schock macht Brettspiele zum Renner im Weihnachtsgeschäft. Diese – an sich positive – Nachricht hat dennoch einen negativen Beigeschmack: Aus einer im Zusammenhang mit „Pisa“ erarbeiteten OECD-Studie geht nämlich hervor, gerade mal zehn Prozent der Kinder konnten davon berichten, dass ihre Eltern mit ihnen spielen würde. – Nicht in erster Linie aus Gründen mangelnder Zeit, heißt es weiter, sondern weil Eltern handfeste Kommunikationsprobleme mit ihrem Nachwuchs haben. Soviel vorweg, um anzudeuten, wie groß die Baustelle „Schule“ mittlerweile ist!

Es ist erfreulich, wenn auch kein Grund für Luftsprünge, dass sich die Leistungen von deutschen Schülerinnen und Schülern laut Pisa II leicht verbessert haben – wenn auch nur signifikant in den naturwissenschaftlichen und mathematischen Fachgebieten. Diese Verbesserungen sind zum Teil auf die Initiativen seit Pisa I zurückzuführen. Zu nennen sind hier stichwortartig die Einführung von Bildungsstandards, das integrative Sprachförderungskonzept, der Schul-TÜV und Lernpläne für schwache und starke Schülerinnen und Schüler. Dies alles sind Schritte in die richtige Richtung. Aus sich des SSW sollte aber weiterhin vor „Testeritis“ gewarnt werden. Wir können uns nicht aus unseren Bildungsproblemen „heraustesten“. Tests können lediglich den vorhandenen Bildungsstand belegen. Sie führen nicht zu einer besseren Schule.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass in keinem anderen OECD-Land die Pisa-Debatte so emotional geführt wird wie in der Bundesrepublik, daran hat sich seit 2000 nichts geändert. Das liegt zum einen an den immer noch mittelmäßigen Ergebnissen der PISA-Studie, zum anderen hängt es aber auch damit zusammen, dass schulpolitische Debatten eher selten unter der Überschrift „Schule“, sondern eher unter der Überschrift „Politik“ geführt werden. Soll heißen: Würde die Schule und die Weiterentwicklung von Schule im Mittelpunkt der Debatte stehen, wäre es auch möglich, politische Beschlüsse im Konsens zu fassen. Mag sein, dass es darüber hinaus sogar möglich wäre, eine Debatte ohne „Tunnelblick“ zu führen.

Stattdessen wird von einigen immer noch versucht, das Ergebnis auch aus der zweiten PISA-Studie allein als die Folge von inhaltlichen Mängeln unseres Schulwesens hinzustellen. Der OECD-Experte Schleicher betont, dass man die notwendigen Reformen zwar nicht auf die Frage der Schulstruktur reduzieren kann, dass die Probleme aber auch nicht allein mit einer „Binnenoptimierung“ im deutschen Bildungssystem gelöst werden können. Schon 2000 sagte er: „Nie zuvor hat Bildung denen, die gut qualifiziert sind, derartig viel Chancen eröffnet. Die Kehrseite aber ist, dass unzureichende Bildungsinvestitionen sinkende Lebensqualität bedeuten, sowohl für den Einzelnen als auch für die Nationen mangelnde Bildung wird zudem die Möglichkeiten junger Menschen sich in unserer Gesellschaft zu engagieren, zunehmend begrenzen.“ Daran hat sich bis heute nichts geändert, denn auch die neue PISA-Studie dokumentiert „schwarz auf weiߓ, dass der schulische Erfolg von Kindern und Jugendlichen in kaum einem anderen OECD-Land so sehr von sozialen Faktoren bestimmt sind wie in Deutschland.

Richtig ist natürlich, dass grundlegende Reformen im Bildungswesen, mindestens zehn Jahre benötigen, um bei 15-jährigen „anzukommen“. – Dass Strukturänderungen nicht einfach per Knopfdruck umgesetzt werden können. Daher begrüßt der SSW, dass SPD und Bündnis 90/Die Grünen erkannt haben, dass wir keinen echten Paradigmenwechsel in der Schuldebatte hinbekommen, wenn die Schulstrukturfrage weiterhin tabuisiert wird. Wir bleiben aber dabei, dass es möglich gewesen wäre, schon jetzt die Weichen zu stellen. Die Einführung einer 6-jährigen Grundschule wäre ein richtiger Schritt gewesen.

Interessant ist, in Klammern bemerkt, dass es in dem von so vielen gelobten Finnland – laut Rainer Domisch, deutscher Auslandslehrer in Finnland und Gastredner auf einer Fachtagung der GEW in Berlin – es lediglich von 1972 bis 1977 dauert hat, bis dort das integrative Schulsystem umgesetzt war. Hinzu kommt, dass diese Änderung in einer wirtschaftlich schlechten Zeit in Angriff genommen wurde. Mit anderen Worten: Von Finnland lernen, heißt auch zu begreifen, dass Strukturänderungen keinen Wert an sich haben. Sie sind notwendig, weil das Ziel, auch Bildungsziele, nur zu erreichen sind, wenn alle Faktoren miteinbezogen werden. Und angesichts der wachsenden Anforderungen in der Berufsausbildung und bei der Lebensgestaltung in einer sehr komplexen Welt sollte es uns nicht gleichgültig sein, dass Jahr für Jahr so viele Jugendliche mit schlechten Chancen in ihr Erwerbsleben starten: ohne Beruf, ohne Job und ohne eigenes Einkommen. Dass alles dies insbesondere eine Schulart betrifft – die Hauptschule nämlich – ist für uns nicht hinnehmbar.

Der SSW will bekanntlich eine „ungeteilte Schule“ nach skandinavischem Vorbild, in der die Kinder von der 1. bis zur 9. bzw. bis zur 10. Klasse gemeinsam unterrichtet werden. Wir wollen – ich wiederhole es gerne – dass der Unterricht differenziert wird, statt dass die Schüler schon nach der 4. Klasse sortiert werden. Eine „ungeteilte Schule“ ist nicht ohne weiteres eine „gute Schule“. Sie ist aber ein starkes Fundament für die inhaltliche Weiterentwicklung von Schule. Wenn nicht die Schulart oder der schulartbezogene Unterricht in den Mittelpunkt gestellt wird, sonder allein die Belange der einzelnen Schülerinnen und Schüler, dann wird dies auch zu einem Perspektivenwechsel in der Bildungspolitik führen. Dann wird die Devise nicht mehr lauten: „Dieses Kind, dieser Jugendliche passt nicht in diese Klasse“, sie wird vielmehr lauten: „Was kann ich für diesen Schüler und diese Schülerin tun, damit sie die erforderlichen Kompetenzen erwerben“.

Und genau dort befindet sich die aktuelle Pisa-Debatte nördlich der Grenze. Denn natürlich ist man nicht mit den von dänischen Schülerinnen und Schülern erzielten Ergebnissen zufrieden. Dass sie gern zur Schule gehen und hinsichtlich ihrer sozialen Kompetenz in der OECD-Studie einen zweiten Platz belegen, ist parteiübergreifend positiv zur Kenntnis genommen worden. Aus einer anderen Studie weiß man z. B. auch, dass knapp 80% der Eltern mit der Schule ihrer Kinder sehr zufrieden sind. Keiner denkt daran, das alte gegliederte Schulsystem wieder einzuführen, das im Laufe der 60’er Jahre abgeschafft wurde. Die Präambel des Volksschulgesetzes nennt das übergeordnete Ziel der Schule, nämlich das Erlernen demokratischer Beteiligungsrechte. Im Mittelpunkt der Debatte steht somit nun die Frage, wie die zielgenaue Förderung von schulischen Leistungen mit diesem übergeordneten Ziel der Schule in Einklang gebracht werden kann.

Ich verrate daher auch kein Geheimnis, wenn ich zum Schluss noch mal hervorhebe, dass der SSW aus all den Gründen, die ich bisher genannt habe, den vorliegenden CDU-Antrag nicht unterstützen kann. Den ersten Punkt könnten wir noch mittragen, wir sind aber nicht für eine Zementierung des gegliederten Schulwesens zu haben. Der CDU kann ich somit nur zurufen: Passt auf, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass ihr nicht in eurem eigenen bildungspolitischen Beton nicht stecken bleibt!

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