Rede · 25.01.2006 Reform des Föderalismus

Der Landtag nimmt sich heute 90 Minuten Zeit, um über den Stand der Föderalismusreform zu debattieren. Das lässt eine tiefere Auseinandersetzung zu. Das Vorhaben, den bundesdeutschen Föderalismus zu reformieren, gehört schließlich zu den zentralen Reformprojekten der neuen Berliner Koalition. Die Reform kann aber nur gelingen, wenn die Blockaden der bundespolitischen Entscheidungsstrukturen wirklich aufgebrochen werden und die Landesparlamente ihre ursprüngliche Funktion und Macht wiedererlangen. Das wäre dann aber auch eine außerordentliche historische Leistung der Großen Koalition unter Bundeskanzlerin Merkel. Für das Scheitern gilt umgekehrt das Gleiche: sollte die längst fällige Reform zu einem Reförmchen verkommen oder doch wieder an parteipolitischen Spielchen scheitern, wäre eine Chance vertan.

Zu den konkret vorliegenden Vorschlägen der Großen Koalition, die als Anlage der Koalitionsvereinbarung beigefügt sind, haben wir uns bezüglich des Strafvollzuges bereits in der letzten Landtagssitzung geäußert. Der SSW hat hier seine Kritik an der vollständigen Verlagerung des Strafvollzuges - einschließlich des Vollzugs der Untersuchungshaft - auf die Länderebene dargelegt. Wir teilen im Übrigen die Haltung der Landesregierung in Bezug auf die Zuständigkeiten bei der Landesbeamtenbesoldung, die nach Vorstellungen der Koalition in Berlin ganz auf die einzelnen Länder übergehen soll. So sind wir eigentlich auf einem guten Weg, über die Kompetenzen zu diskutieren. Ich bin davon überzeugt, dass wir dabei bleiben sollten: auch die weiteren Vorschläge sollten wir auf ihre Auswirkungen auf die Länder und ihre Tragfähigkeit hin kritisch überprüfen.

Die Rückführung der Gemeinschaftsaufgaben, die Auflösung der Mischfinanzierung sowie die Reduzierung der Rahmengesetzgebung und damit der zustimmungspflichtigen Gesetze sind grundsätzlich zu begrüßen. Damit würde Vieles klarer. Dennoch darf aus Sicht des SSW nicht übersehen werden, dass der Bund im Bereich der Bildung weiterhin einer gesamtstaatlichen Verantwortung nachkommen muss. Es muss also möglich sein, auch künftig Hochschulen und Schulen vonseiten des Bundes finanziell zu unterstützen. Nur der Bund konnte zum Beispiel mit dem Programm für die Ganztagsschulen diesen Bereich bundesweit in Bewegung setzen. Das gleiche gilt für die Förderung von Forschung und Wissenschaft. Auch hier springt zu kurz, wer nur die reine Lehre vertritt.


Gestatten Sie mir vor diesem Hintergrund einen Hinweis auf ein weiteres potenzielles Aufgabenfeld: Der Bund hat sich in lobenswerter Weise in den letzten Jahren zur Unterstützung der nationalen Minderheiten sowie deren Sprachen und Kultur bekannt und die vier anerkannten autochthonen Minderheiten über den Bundeshaushalt gefördert. Auch wenn dieser Aspekt bei der Föderalismusreform sicher nicht im Vordergrund steht, so sollte diese - zweifellos gemeinsame - Aufgabe der Länder und des Bundes in diesem Prozess mitbedacht werden. Ich rege daher an, dass sich Schleswig-Holstein gemeinsam mit Sachsen und Brandenburg - den Bundesländern mit einer sorbischen Minderheit - überlegt, wie diese durchaus in Teilen überregionale Aufgabe – Schutz und Förderung der autochthonen Minderheitenkulturen - bei der anstehenden Grundgesetzänderung systemkonform berücksichtigt werden könnte. Die bisher eher zufällige Form der Förderung sollte in eine Vereinbarung zwischen dem Bund und den Ländern auf eine solide und verlässliche Grundlage gestellt werden. Die Minderheitenpolitik ist kein zentrales Thema in der Föderalismus, zeigt aber anschaulich, um was es geht: um die zukünftige Verfasstheit Deutschlands.

Vom Detail komme ich nun zum Grundsätzlichen.

In Deutschland besteht ein dringender institutioneller Reformbedarf. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben sich sicherlich nicht träumen lassen, dass aus der Doppelzuständigkeit von Bundesrat und Bundestag eine handfeste Blockademöglichkeit erwachsen würde, die von der einen oder anderen Volkspartei je nach Gusto missbraucht wird. Ich meine, dass man durchaus von einer latenten Verfassungskrise sprechen kann, wenn man die Lähmung der Politik der letzten Jahre betrachtet.

Die letzten großen Föderalismusreformen hat übrigens die letzte Große Koalition Mitte der 60er Jahre vorgenommen. Unter anderem wurden Gemeinschaftsaufgaben ins Grundgesetz eingeführt und somit die Mischfinanzierung erheblich ausgeweitet. Auch damals ging man mit den besten Absichten zu Werke. Die gesellschaftliche Entwicklung erforderte zentralere, einheitlichere Lösungen unter Beibehaltung der verfassungsmäßig vorgeschriebenen föderalen Ordnung.

Die unbeabsichtigte Folge: Der Anteil der zustimmungspflichtigen Gesetze wuchs stetig an. Mitte der 70er Jahre kam es durch unterschiedliche parteipolitische Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat zu einem sprunghaften Anwachsen der Anrufungen des Vermittlungsausschusses - über 100 Anrufungen, überwiegend seitens des Bundesrates.

Die damalige Regierung Schmidt hat sich in der Regel durch Zugeständnisse an einzelne oder mehrere der unionsgeführten „B-Länder“ die Zustimmung oder den Kompromiss „erkauft“. Eine Praxis, die von der Regierung Kohl in den 80ern fortgesetzt wurde. Der Bund setzte sich meistens durch, aber im doppelten Sinne für einen hohen Preis: einerseits wurden Steuergelder umgelenkt und andererseits wurden die Ergebnisse jenseits der Öffentlichkeit im nicht-öffentlichen Vermittlungsausschuss ausgehandelt.

Die Politikwissenschaft kritisierte diese Tendenzen frühzeitig und sprach von der Politikverflechtungsfalle: Das Regierungshandeln auf Bundesebene hatte durch die Verflechtung der Zuständigkeiten und wegen der daraus erforderlichen Abstimmungsprozesse einen erheblichen Effektivitätsverlust zu verzeichnen. Die Folgen kennen wir: Besitzstandswahrung setzte sich durch, so dass nur Lösungen, bei denen alle mehr bekommen, eine Chance haben. Im Klartext: es werden immer teuere Lösungen zu Lasten der Allgemeinheit ausgehandelt.

Gleichzeitig geraten die Landesparlamente ins Hintertreffen, weil die Landesvertreter im Bundesrat Mitglieder der jeweiligen Landesregierungen sind und nicht der Landtage. In den USA werden zum Beispiel die einzelnen Bundesstaaten im Senat, der zweiten Kammer, durch eigens gewählte Senatoren vertreten, und nicht durch die Gouverneure.

Zwanzig Jahre wurde die Diskussion über die Mängel der bundesdeutschen Ordnung hauptsächlich in akademischen Fachzirkeln geführt. Die zunehmende Krise der öffentlichen Haushalte im Laufe der 80er und 90er Jahre, die den Spielraum für teure Kompromisspakete zunehmend einengte, sowie die Deutsche Einheit, die die Zahl der Bundesländer von 11 auf 16 erhöhte, setzte die Reform des Föderalismus ernsthaft auf die politische Tagesordnung.

Ich möchte in diesem Zusammenhang an den Föderalismuskonvent der deutschen Landesparlamente im März 2003 in Lübeck erinnern, zu dem der damalige schleswig-holsteinische Landtagspräsident Heinz-Werner Arens eingeladen hatte. Dort sind die Probleme und die konkreten Handlungsbedarfe aus Sicht der Landesparlamentarier diskutiert und in der „Lübecker Erklärung“ formuliert worden.
Hierauf können wir in der aktuellen Diskussion aufbauen. Wir müssen also das Rad nicht neu erfinden. In den Protokollen der letzten Legislaturperiode ist nicht nur nachzulesen, wie die Debatte damals verlief. Viel wichtiger ist aus Sicht des SSW in Erinnerung zu rufen, dass wir uns in einem fraktionsübergreifenden Antrag dafür stark machten, den Parlamenten ihre Macht zurück zu geben. Daher sollten wir weiter gemeinsam daran arbeiten, für eine Stärkung des Föderalismus dort einzutreten, wo wir als Parlament das Zepter in der Hand haben – z.B. bei den Voten der Landesregierung für den Bundesrat. Die Forderung nach einer dahingehenden Erweiterung des Artikels 23 des Grundgesetzes ist weiterhin richtig. Die Landesregierung soll in ihrer Arbeit nicht behindert werden, aber dennoch sollten wir uns als Parlament von unserer selbst gewählten Bescheidenheit verabschieden.

Die Reform muss ein neues Gleichgewicht zwischen Bund und Ländern, Exekutive und Legislative, den großen und den kleinen Ländern sowie zwischen den reichen und den armen Ländern finden. Das ist eine schwierige Aufgabe. Für den SSW ist klar, dass die Reform vor allem zwei Ziele umsetzen muss: eine solide Finanzausstattung der Länder und  - wie bereits erwähnt - eine starke sowie effektive demokratische Kontrolle.

Der künftigen Ausgestaltung der Finanzhoheit der Länder - einschließlich des Länderfinanzausgleichs - kommt bei der Reform eine zentrale Rolle zu. Für den SSW ist klar, dass ein reiner Wettbewerbsföderalismus die falsche Antwort auf die Herausforderungen ist. Dieser ist nicht mit dem bundesstaatlichen Prinzip vereinbar, da er das solidarische Element des Föderalismus zersetzt. Die Vielfalt macht den Reiz des Föderalismus aus. Hier liegt das innovative Potenzial für neue Politikansätze. Der SSW fordert Wettbewerb der besseren Ideen und Ansätze statt ruinöse Konkurrenz unter ungleichen Bedingungen.

Den Ländern muss in ihrer jetzigen Form eine ausreichende Finanzgrundlage gesichert werden, die die Strukturschwächen berücksichtigt und gleichzeitig wirtschaftliches Handeln belohnt. „Wer bestellt, muss bezahlen“, ist die stark vereinfachte Fassung unserer Forderung nach klaren finanziellen Verantwortlichkeiten. Der SSW steht für Konnexität, d.h. die Verknüpfung von Regelkompetenz und Finanzierungsverantwortung auf einer Ebene. Das gilt nicht nur auf kommunaler Ebene, sondern auch in der Beziehung zwischen dem Bund und den Ländern.

Dazu gehört aber auch mehr Autonomie der Länderebene bei der Gestaltung von Einnahmen und Ausgaben. Wir sollten uns nicht immer reinreden lassen müssen. - Also brauchen wir eine klare Aufgabenteilung.

Das fördert auch die demokratische Transparenz. Mit der ist es nämlich nicht gut bestellt. Demokratie zeichnet sich dadurch aus, dass politische Macht sachlich und zeitlich beschränkt wird und die Machtinhaber durch Wahlen demokratisch legitimiert und durch die Öffentlichkeit kontrolliert werden. Die Vertreter der Länder im Bundesrat besitzen so gesehen keine eigene demokratische Legitimation für diese Funktion. Der Vermittlungsausschuss, dessen Entscheidungsprozess für die Öffentlichkeit vollständig intransparent ist, verflüchtigt zudem die Verantwortung für die Ergebnisse der politischen Aushandlungsprozesse.  Die Wählerinnen und Wähler können das Handeln im Vermittlungsausschuss weder belohnen noch abstrafen, weil sie gar nicht wissen, wer was entschieden hat. Diese Grauzone der demokratischen Kontrolle muss durch die Entflechtung der Zuständigkeiten verringert werden.
 
So wie die Landesparlamente die eindeutigen Verlierer der bisherigen Entwicklung des deutschen Föderalismus sind, so sind die Staatskanzleien der Länder die Gewinner dieser Entwicklung gewesen. Die Macht, die den Ministerpräsidenten über den Bundesrat zuwuchs, verleiht ihnen bundespolitische Bedeutung, Einfluss und Aufmerksamkeit in der Bundesregierung, der Öffentlichkeit und nicht zuletzt in der eigenen Partei. Dies ist zu verlockend, um es brach liegen zu lassen. Kein Politiker kann sich einer solchen effektiven und in weiten Teilen unkontrollierten Einflussmöglichkeit entziehen. Außerdem kann man gegebenenfalls auch Sonderinteressen des Landes beim Bund durchsetzen, wenn man nur hoch genug pokert. Das mag gut gemeint sein. Die Kosten dieser privilegierten Einflussmöglichkeiten sind aber hoch. Die Bundespolitik kann blockiert werden. Außerdem werden die öffentlichen Haushalte aufgebläht und die Landtage verlieren an Bedeutung.

Wie bei jeder ernst gemeinten Reform geht es auch diesmal darum, Macht neu zu verteilen. Im vorliegenden Fall führt das zum Paradox, dass die erforderliche institutionelle Neuverteilung der Macht von der Zustimmung derer abhängt, die Macht an die Landesparlamente und die Bundesebene abgeben müssten, nämlich den Ministerpräsidenten der Länder. Und genau daran ist  ja auch die Arbeit der letzten Föderalismuskommission gescheitert.


Die Föderalismusreform geht uns alle an und gerade wir als Landtag müssen uns in den Prozess einbringen. Es gilt den Föderalismus zu stärken und zukunftsfähig zu machen, auch um ein selbstständiges Schleswig-Holstein im 21. Jahrhundert zu sichern.

 

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