Tale · 06.03.2019 Wir haben hier kein gesellschaftliches Problem

Lars Harms zu TOP 6+29 - Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Hochschulen und das Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (Drs. 19/1290)

„Gesetzliche Änderungen als schnelle Reaktionen auf einen Einzelfall sehen wir kritisch. Die gesellschaftliche Debatte an sich jedoch muss geführt werden.“


(Nr. 069-2019) Schleswig-Holstein hat knapp 2,9 Millionen Einwohner. Eine davon ist im Niqab in der Uni erschienen. Wir haben hier kein gesellschaftliches Problem. Wir diskutieren einen absoluten Einzelfall. Und, meine Damen und Herren, dieser Einzelfall ist auch schon gelöst worden. Die Uni hat eine Regelung gefunden, wie damit umzugehen ist und die derzeitige Rechtsprechung gibt der Uni Recht. Es ist also somit alles geregelt und trotzdem wird fleißig diskutiert.
In den Diskussionen der letzten Wochen laufen so viele Argumentationsstränge zusammen, dass - das werden Sie auch erlebt haben - es schwer ist, im Gespräch auf der gleichen Ebene zu bleiben. Da werden die vermeintliche Religionsfreiheit, die Freiheit des Individuums, zu tragen, was es will, Fragen nach Unterdrückung oder Selbstbestimmung, Forderungen von Anpassung oder verschiedene Wertevorstellungen miteinander vermischt. Und kommt man mit dem einen Gesprächsstrang nicht weiter, greift man nach dem nächsten. 
Der Niqab selbst ist als Kleidungsstück stark symbolisch aufgeladen. Die einen geben vor, er sei ein Zeichen der Religionsausübung. Wenn Sie Interviews mit Frauen, die Niqab tragen, lesen, stellen diese die Verhüllung als Teil ihrer Lebensqualität dar, die beinhaltet, vollends bestimmen zu können, wer wann welchen Teil ihres Körpers sehen darf und wer nicht. Ob eine solche Entscheidung in einer männer-dominierten Welt immer frei sein kann, stelle ich einmal dahin. Andere projizieren all das auf ihn, wovor sie sich bei den ultrakonservativen Strömungen des Islams fürchten. In diesem Kleidungsstück manifestiert sich dann eine abstrakte Angst vor Rückwärtsgewandtheit, religiösem Radikalismus, Unterdrückung und schließlich auch Islamismus. 

Für den SSW möchte ich vorausschicken, dass der Gedanke, der hinter dem Niqab steht, einfach unserem Verständnis von Gleichberechtigung und Gleichstellung der Frau diametral entgegengesetzt ist. Weil diese ins Leben eingreifende Kleidervorschrift nur für Frauen gilt. Weil nur Frauen in der Kommunikation gehindert werden. Und weil nur die Frau als Individuum hinter dem Niqab unsichtbar gemacht wird. Deshalb ist der Niqab ein Ausdruck von Ideologie, die sich gegen die Emanzipation der Frauen, gegen unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung und gegen unsere Werte stellt. Diese Form der Vollverschleierung ist eben kein Ausdruck der Religiosität. Man kann auch Muslima sein, ohne sich zu verschleiern. Die große Mehrheit der Muslimas lebt ohne Verschleierung. Und auch die muslimischen Verbände sagen deutlich, dass Niqab und Burka eben nicht religiös bedingt sind. Und deshalb hat die Diskussion über diese Kleidungsstücke auch nichts mit der Religionsfreiheit zu tun. 

Auslöser der Debatte, wir haben es mehrfach gehört, ist die Richtlinie über das Tragen eines Gesichtsschleiers, die das Präsidium der Christian- Albrechts-Universität zu Kiel erlassen hat, nachdem eine Studentin im Niqab in einer Lehrveranstaltung erschienen ist und der anwesende Dozent sie aufforderte, die Verschleierung abzulegen. An der Uni Kiel wird seitdem intensiv gestritten, ob diese Entscheidung richtig war. Unbenommen ist, dass die Universität das Recht hat, Kleidervorschriften zu erlassen. Aufgrund dieses Einzelfalls nun Gesetzesänderungen zu fordern, erscheint aus unserer Sicht erst einmal nicht notwendig. Schließlich ist das Problem ja gelöst worden. Und Vollverschleierung ist in Deutschland so selten, dass Ihnen selbst bei der Lektüre von Artikeln über Vollverschleierung immer wieder die gleichen Porträts präsentiert werden. Die Frau mit den grünen Augen im schwarzen Niqab. Das Foto von zwei Frauen, die eine in Schwarz, die andere in Blau verschleiert. Wahrscheinlich wissen Sie, welche Bilder ich meine. 

Wenn wir derartige Bekleidungsvorschriften gesetzlich festschreiben wollten, müssten wir uns auch sicher sein, wo wir anfangen und wo wir aufhören wollen. Geht es tatsächlich darum, dass man das Gesicht sehen können muss? Wenn wir in andere EU-Länder schauen, die da schon einen Schritt weiter sind, sehen wir verschiedene Lösungen. In Frankreich gibt es seit 2011 ein Verbot für Vollverschleierung und Burkinis an den Stränden von Nizza. In den Niederlanden gilt seit Ende 2016 ein Burka-, Niqab- und Motorradhelmverbot in öffentlichen Gebäuden, Krankenhäusern, Schulen und öffentlichen Verkehrsmitteln. Oder schauen Sie nach Norden. In Dänemark gilt seit letztem Jahr ein Verbot, das neben Ganzkörper- und Gesichtsschleiern auch Sturmhauben, Skimasken, falsche Bärte sowie weitere gesichtsbedeckende Masken umfasst. In allen drei Ländern fallen mindestens Bußgelder an, wenn jemand zuwiderhandelt. Auch wenn die Verfassungslage in den genannten Ländern sich durchaus von unserer rechtlichen Grundlage unterscheidet, wäre es wohl möglich, bei uns ähnlich zu verfahren. Die Frage ist allerdings, ob wir das wollen, nur weil eine Person unter 2,9 Millionen Einwohnern aufgefallen ist.

Rechtlich könnten wir, wenn wir wollen, also auch in Schleswig-Holstein für ein stellenweises Verbot von Ganzkörper- oder Gesichtsschleiern sorgen. Hessen hat ein derartiges Verbot 2011 für den öffentlichen Dienst erlassen. Niedersachen 2017 für Schulen. Bayern 2018 für Schulen und Kindergärten. Und der Bayerische Verfassungsgerichtshof und der Bundesgerichtshof haben solcherlei Regelungen bestätigt. Selbst der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat 2017 auf die Klage zweier Belgierinnen hin entschieden, dass Verhüllungsverbote zulässig sind. Dies wurde damit begründet, dass derartige Restriktionen gegebenenfalls notwendig in einer demokratischen Gesellschaft sein könnten, da sie „Bedingungen des Zusammenlebens“ garantieren und die „Rechte und Freiheiten anderer“ schützen könnten. 
Auch der wissenschaftliche Dienst des Bundestages hat in Gutachten festgehalten, dass zwar ein generelles Verbot, Burka oder Niqab zu tragen, verfassungswidrig sei und gegen das Neutralitätsgebot des Grundgesetzes verstoße. Im Einzelfall seien Verbote jedoch zulässig. 
Die Entscheidung, ob Vollverschleierung akzeptiert werde oder nicht, wird vom Europäischen Gerichtshof als eine Entscheidung der Gesellschaft dargestellt. Und darüber müssen wir uns vielleicht eher darüber Gedanken machen, als über rechtliche Fragen. Was wären die Konsequenzen für unsere Gesellschaft, wenn wir ein solches Verbot aussprechen würden?

Das Gesicht spielt in unserer Kommunikation in der Regel eine große Rolle. Wir schreiben ihm sogar in unseren Redensarten ein hohes Gewicht zu. Wenn Sie in einem Konflikt ihr Gesicht wahren, behalten Sie ihr Ansehen. Wenn Sie ihr Gesicht verlieren, machen Sie sich lächerlich. Werden Sie schwer gekränkt, ist das wie ein Schlag ins Gesicht. Und wenn Sie mir Ihr wahres Gesicht zeigen, weiß ich, woran ich bin. Es gibt aber viele Situationen im Leben, in denen ich das Gesicht meines Gegenübers nicht erkennen kann und trotzdem kein Unwohlsein aufkommt. Sei es die verspiegelte Sonnenbrille, der Mundschutz, die Mütze in die Stirn gezogen oder der Schal bis über die Nase. So etwas will, glaube ich, niemand verbieten. Deswegen ist es uns als SSW auch wichtig, dass wir diese Debatte überlegt führen und nicht nach Impulsen Fakten schaffen. Vielleicht ist daher auch eine offen gestaltete Anhörung zu den Grundrechtsaspekten gar kein schlechter Schachzug. Allerdings dürfte sich der Diskurs dann auch nicht nur auf den Bildungsbereich beziehen.

Ich möchte aber auch noch einen Aspekt in die Debatte einbringen, der allzu oft eine geringere Rolle spielt. Die Muslime in Deutschland stehen seit Jahren in einen permanenten Rechtfertigungszwang. Ständig müssen sich die Muslime für ihren Glauben und für ihre Kultur rechtfertigen, weil sie immer wieder mit den radikalen Ausprägungen des politischen Islamismus gleichgesetzt werden. Und genau das gleiche ist jetzt gerade wieder in Schleswig-Holstein in Gange. Wieder müssen sich die Muslime für eine radikale Ausdruckform, hier den Niqab, kollektiv rechtfertigen. Das ist nicht gerecht! Die weit überwiegende Mehrzahl der Muslime ist offen, gesetzestreu und hat keine radikalen Ansichten – genauso wie alle anderen auch. Und genauso wie alle anderen auch wollen sie nicht für Fehler oder radikale Einstellungen anderer in Kollektivhaftung genommen werden. Und deshalb noch einmal: Niqab, Burka oder andere Vollverschleierungen haben nichts mit der muslimischen Religion zu tun. 

Wenn wir also heute über Vollverschleierung reden, dann sollten wir dies ohne ideologischen oder zeitlichen Druck tun. Wir haben kein drängendes Problem in unserem Land. Ich will deshalb weder, dass ein solcher Einzelfall von rechts instrumentalisiert wird, noch will ich, dass Salafisten sich ins Fäustchen lachen, weil wir sie in ihrem Zulauf stärken. Und ganz bestimmt will ich nicht, dass wir aus scheinbarer Toleranz einen Hebel nicht nutzen, mit dem wir Frauen in Unterdrückungsverhältnissen helfen könnten. Und deswegen müssen wir alle Für und Wider abwägen und genau überlegen, wie weit wir mit möglichen Vorschriften gehen wollen.

Deswegen gilt für den SSW abschließend: Gesetzliche Änderungen als schnelle Reaktionen auf einen Einzelfall sehen wir kritisch. Die gesellschaftliche Debatte an sich jedoch muss geführt werden.

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