Rede · 20.06.2025 Das Primärarztsystem schafft ein neues Nadelöhr

„Wenn grundsätzlich freie Behandlungskapazitäten bestehen, aber nur ein Teil der Bevölkerung diese für sich nutzen kann, dann läuft hier etwas massiv schief und dann sollten wir, bevor wir ein neues Primärärztesystem einführen, erstmal einen gleichen Zugang zu Gesundheitsleistungen für alle schaffen.“

Christian Dirschauer zu TOP 27 - Bericht zur Einführung eines verpflichtenden Primärarztsystems (Drs. 20/3311)

Die gesundheitliche Versorgung in Schleswig-Holstein steht vor großen Herausforderungen, denn die demografische Entwicklung macht auch vor der Ärzteschaft nicht Halt. So ist dem aktuellen Faktenpapier der vdek zu entnehmen, dass in absehbarer Zeit etwa ein Drittel der Ärztinnen und Ärzte in den Ruhestand geht. Der Mangel an Hausärzten ist dabei kein schleswig-holsteinischer Trend, das ist bundesweit zu verzeichnen. 
Wir haben in Schleswig-Holstein das Problem, dass die hausärztliche Versorgung gerade im ländlichen Bereich herausgefordert ist und dass sich diese Entwicklung noch verstärken wird. Alles im Allem sind das keine rosigen Aussichten. 
Ich möchte an dieser Stelle zunächst die Gelegenheit nutzen, mich bei Ihnen, Frau Ministerin von der Decken, und ihrem Team zu bedanken, für die ausführliche und umfangreiche Antwort auf meinen Abgeordnetenbrief bezüglich der Maßnahmen zur Verbesserung der wohnortnahen (hausärztlichen) Versorgung. Daraus geht deutlich hervor, dass auf allen politischen Ebenen und mit einer Vielzahl von Akteuren verschiedene Maßnahmen und Projekte laufen, um die medizinische Grundversorgung in der Fläche abzusichern und weiterzuentwickeln. 
Diese Bemühungen will ich nicht in Abrede stellen, gleichwohl sind die Prognosen, was die ärztliche Versorgung angeht, eher düster. Diese negative Spirale füttert sich dann auch noch selbst, indem die verbleibenden Ärzte zusätzlich die Versorgung gewährleisten müssen, die durch den Wegfall entstehen. Also; Mehrbelastung und Überlastung bei der Ärzteschaft und den Praxismitarbeitenden, längere Wartezeiten und weitere Anfahrtswege, um nur einige Effekte zu nennen. Dieser Trend muss gebrochen werden. 
Politisch steht nun die grundsätzlich bestehende freie Arztwahl auf dem Prüfstand. Ziel ist die Hausärzte auf der einen Seite zu stärken und die Fachärzte auf der anderen Seite zu entlasten. 
Aus diesem Grund setzt die Koalition aus Union und SPD nun auf ein Systemwechsel. Demnach soll die Einführung des Primärärztesystems hier nun die Lösung bringen. 
Die Diskussion und Kritik am Primärärztesystem ließen dann auch nicht lange auf sich warten. Schließlich ist es eine grundlegende Systemänderung. Eine Änderung wird daher auch als Einschränkung der Patientenrechte gesehen. Die Entscheidungshoheit ob und ggf. zu welchem Facharzt gegangen wird, würde somit in die Hände der Primärärztinnen und -ärzte gelegt.
Im Grunde genommen ist das Primärärzteprinzip aktuell das, was uns Wissenschaft und Forschung mit auf den Weg gibt. Auch ein Sachverständigenbericht der EU aus 2020 empfiehlt Deutschland ein entsprechendes Gatekeeping-Modell. Vor allem aber ist das Primärärztemodell ein Modell, um Kosten zu sparen im Gesundheitswesen und ist im Grunde genommen sicher auch dafür geeignet, aber: passt das aktuell zu unserer real existierenden „Gesundheitswelt“? Wie sinnvoll ist das, wenn bereits jetzt Hausärzte und Personal in den Praxen fehlen und die Situation ja absehbar nicht besser wird? Entstünde unter der heutigen Konstellation und den sonstigen Rahmenbedingungen nicht eher ein neues Nadelöhr für die Patientinnen und Patienten?
Meine Damen und Herren, das Primärärztemodell kann sicher einen Beitrag zur Senkung der Kosten im Gesundheitsbereich leisten. Aber ob sich in der Summe eine echte Verbesserung auch für die Patientinnen und Patienten ergibt, z. B. was Wartezeiten für Termine und damit auch Behandlungsdauer angeht, da habe ich so meine Zweifel.
Unabhängig von dem, was ist oder was wird, müssen wir verschiedene Punkte des Gesundheitswesens weiter voranbringen. Ein wichtiger Punkt für mich wäre hier auch das Thema Prävention, über das wir hier in diesem Hause schon mehrfach gesprochen haben. Die beste Möglichkeit zur Entlastung des Gesundheitswesens ist doch, wenn die Menschen möglichst lange gesund sind und gar nicht den Bedarf haben einen Arzt aufzusuchen. Hier machen wir noch viel zu wenig.
Und auch über das Vergütungssystem sollten wir bzw. der Bundesgesetzgeber sich nochmal Gedanken machen.
Meine Damen und Herren, ich habe mir heute Morgen mal den Spaß gemacht, bei einer Flensburger Facharztpraxis die Online-Terminbuchung durchzuspielen. Einmal für gesetzlich Versicherte und einmal für Privatversicherte. Als gesetzlich Versicherter hätte ich einen Termin ab 29. September bekommen können, also erst in mehr als drei Monaten. Was glauben Sie, wann ich als Privatversicherter einen Termin hätte bekommen können? Am kommenden Montag! Und bis zum 29. September mit zahlreichen freien Möglichkeiten, gar ganze Tage die noch keinen einzigen gebuchten Termin anzeigten. Wenn also grundsätzlich freie Behandlungskapazitäten bestehen, aber nur ein Teil der Bevölkerung diese für sich nutzen kann, dann läuft hier etwas massiv schief und dann sollten wir, bevor wir ein neues Primärärztesystem einführen, erstmal einen gleichen Zugang zu Gesundheitsleistungen für alle schaffen. Das wäre der richtige Weg! 
 

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