Rede · 23.01.2020 Kinderkuren in Schleswig-Holstein: Eine Aufarbeitung ist dringend nötig

Es scheint sogar konkrete Hinweise auf Medikamentenversuche und sogar auf Todesfälle in Kinderkuren zu geben. Für uns ist das Grund genug, nicht nur diesen Dingen nachzugehen.

Flemming Meyer

Flemming Meyer zu TOP 15 - Geschehnisse im Rahmen von Kinderkuren in Schleswig-Holstein aufarbeiten (Drs. 19/1873)

Ich gehöre selbst zu der Generation, die hier als Betroffene im Zentrum der Debatte stehen. Und auch wenn ich nicht persönlich berührt bin, weiß ich, dass die pädagogischen Ansätze in der Vergangenheit anders aussahen als heute. Das ist auch nicht verwunderlich. Aber das, was Augenzeugen - oder besser Opfer - von ihren Kinderkuren berichten, ist durch nichts zu rechtfertigen. Allein die Tatsache, dass hunderte oder sogar tausende Betroffene bis heute massiv unter den Folgen leiden, ist einfach nur zutiefst erschütternd.

Natürlich ist auch bei diesem Thema ein differenzierter Blick wichtig. Niemandem ist damit geholfen, wenn wir die Zustände in Kindererholungsheimen in den 50er bis 80er Jahren pauschal verurteilen. Und im Gegensatz zur Situation von Kindern, die in diesem Zeitraum dauerhaft in Heimen untergebracht waren, ist dieser Bereich bis heute auch kaum erforscht. Aber ich gehe davon aus, dass die Berichterstattung rund um den Kongress zum Elend der Verschickungskinder bekannt ist. Und in diesem Zusammenhang wurden erstmals fast 1000 Berichte ausgewertet. Mit dem recht eindeutigen Ergebnis, dass 94 Prozent der ehemaligen Kurkinder ihre Erfahrung als negativ bewerten.

Es ist unheimlich wichtig, dass wir dieses Thema richtig einordnen und das Ausmaß begreifen: Allein in den alten Bundesländern gab es weit über 800 Erholungs- und Kurheime. Seit den späten 40er bis in die frühen 80er Jahre wurden zwischen einer und 3 Millionen Kinder in diesen Einrichtungen untergebracht. Manche im Alter von gerade einmal 2 Jahren. Und für viele waren die 6-8 Wochen in diesen Heimen die schlimmsten ihres Lebens. Wir müssen leider davon ausgehen, dass viele dieser Kinder misshandelt wurden. Betroffene berichten zum Beispiel von Esszwang, Toilettenverbot und körperlichen Strafen oder von systematischen Demütigungen und Erniedrigungen. All das liegt zwar lange zurück - aber das ändert nichts daran, dass es viele bis heute verfolgt. 

Für den SSW kann es keinen Zweifel daran geben, dass diese Geschehnisse aufgearbeitet werden müssen. Da können wir uns der Forderung der SPD nur anschließen. Man sollte sich nichts vormachen: Auch Schleswig-Holstein ist hiervon berührt. Hier gab es viele Heime. Hier lebten und leben viele Betroffene aber auch viele Menschen, die für die Taten verantwortlich sind. Und auch bei uns im Land gibt es natürlich Beteiligte wie etwa Ärzte oder Kosten- und Heimträger, die sehr wahrscheinlich von diesen Misshandlungen wussten und sie trotzdem jahrzehntelang ignoriert haben. Nicht zuletzt, weil sie von diesem System auch profitiert haben. 

Wie wir wissen, geht es den Betroffenen vor allem um die sachgerechte Aufarbeitung dieser Geschehnisse. Und die wenigen Akten, die bisher zu diesem Thema gesichtet wurden, scheinen diesen Wunsch klar zu bestätigen: Laut Pressemitteilung der „Initiative Verschickungskinder“ offenbaren allein schon diese zufälligen Stichproben gravierende Verstöße gegen den Kinderschutz. Es scheint sogar konkrete Hinweise auf Medikamentenversuche und sogar auf Todesfälle in Kinderkuren zu geben. Für uns ist das Grund genug, nicht nur diesen Dingen nachzugehen. Auch die Anzahl der Betroffenen und die institutionellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen müssen umfassend aufgeklärt werden. Wir erwarten, dass sich die Landesregierung gemeinsam mit den anderen betroffenen Ländern an diesem Prozess beteiligt. Nicht zuletzt auch finanziell. Denn sowohl die Anlaufstelle zur Beratung und Vernetzung Betroffener wie auch das Forschungsprojekt hierzu sind notwendig. Beides gibt es nicht zum Nulltarif. Aber diese Hilfe ist wirklich das mindeste, was wir für die Betroffenen tun können.

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